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Minutenprotokolle

Mauerfall: 9. November 1989 – Die große Freiheit

Mauerfall: 9. November 1989 – Die große Freiheit

Der 9. November 1989 begann als ein trüber Herbsttag. Es war kein normaler Morgen, die Stadt spürte, dass etwas geschehen wird. Doch niemand konnte ahnen, dass die kommenden vier Tage die verrücktesten und glücklichsten in der Geschichte Berlins werden sollten. Das Protokoll des Mauerfalls.

Wolfgang Koch ist in seinem Trabant auf dem Weg zum Volkspolizeikreisamt in Wilhelmsruh; er hat um neun Uhr einen Termin in der Abteilung Pass- und Meldewesen. Der 41-jährige Koch hat ein Besuchsvisum für West-Berlin beantragt. Wenige Tage zuvor ist seine Mutter die Treppen hinabgestürzt; sie liegt jetzt verletzt im Krankenhaus Westend – unerreichbar für ihren besorgten Sohn, jedenfalls ohne Pass und Visum. Wird ihm die Volkspolizei genehmigen, seine Mutter zu besuchen?

Als freiberuflicher Kabarettist ist Wolfgang Koch keineswegs ein treuer Parteigänger der SED. Auch kein Oppositioneller, aber doch jemand, dem ängstliche Genossen vor seinen Auftritten in Kulturhäusern oder Jugendclubs in diesem Herbst schon mal zuraunen, er möge doch lieber nicht das "Neue Forum" erwähnen. Er hält sich an den "guten Rat" – und schiebt ganz am Ende seines Programms nach, die Zuschauer seien seine Zeugen, dass er an diesem Abend weder das Wort "Neues" noch das Wort "Forum" gesagt habe. Das Publikum wiehert vor Lachen, und die SED-Funktionäre sind blamiert.

9. November 1989, 9 Uhr

Koch pocht das Herz, denn er hat sich vorgenommen: Wenn die Volkspolizei ihm das Visum für 30 Besuchstage in West-Berlin innerhalb der kommenden sechs Monate verweigert, will er umgehend einen Antrag auf ständige Ausreise stellen. Das kann ihn seine Existenz kosten; unabhängige Kabarettisten sind noch weniger gelitten in der DDR als relativ zahme Staatskabarette wie die "Distel" an der Friedrichstraße oder die "Academixer" in Leipzig. Pünktlich steht Koch vor dem Dienstzimmer mit dem Schild "Entscheidungsabholung", klopft an und tritt ein.

Zu seiner großen Überraschung greift der Volkspolizist hinter dem Tresen in einen Stapel mit blauen DDR-Pässen, holt sein Dokument heraus und übergibt es im Austausch gegen den Personalausweis. Koch darf sich seine Freude nicht anmerken lassen – er will nicht in den Verdacht kommen, das unerwartet erteilte Besuchsvisum für eine ständige Ausreise zu "missbrauchen".

Denn das will er nach Möglichkeit wirklich nicht – erst vor gut anderthalb Jahren hat er seine eigene fahrende Kabarett-Truppe gegründet, das "Berliner Sündikat". Diesen Wirklichkeit gewordenen Traum möchte er nicht aufgeben. Berauscht, fast euphorisch verlässt Koch die Dienststelle weit im Norden von Ost-Berlin, um noch einiges zu erledigen. Die neue Reisefreiheit sofort in Anspruch zu nehmen, kommt für ihn nicht infrage, denn am Abend hat er einen Auftritt im sächsischen Hoyerswerda.

Ungefähr zur selben Zeit sitzt an diesem Donnerstagmorgen Jutta Limbach in ihrem Büro schräg gegenüber vom Schöneberger Rathaus. Die 55-jährige Professorin für Rechtssoziologie ist seit gut acht Monaten Justizsenatorin im rot-grünen Senat von Walter Momper; Dienstsitz: das frühere Gebäude der Nordstern-Versicherung am John-F.-Kennedy-Platz.

Es ist ein normaler Arbeitstag für die Senatorin. Um elf Uhr tritt der Rechtsausschuss des Abgeordnetenhauses zusammen, an dem sie als zuständige Senatorin teilnehmen muss; vorher stimmt sie sich noch mit den Ausschussmitgliedern ihrer eigenen Partei, der SPD, ab. Nach der Sitzung, die bis 13 Uhr dauern soll, hat sie dann noch einige Termine, und abends wird sie Gastgeberin für den Rechtsausschuss des Europaparlamentes sein. Ein normaler Arbeitstag für die Senatorin.

Dennoch ist nicht alles an diesem 9. November 1989 so wie gewohnt. Es liegt eine Spannung über der ganzen Stadt, dem eingemauerten Westen ebenso wie dem Ostteil, der "Hauptstadt der DDR". Erst am Abend zuvor haben sich einige enge Vertraute des Regierenden Bürgermeisters in dessen Büro getroffen, außer Walter Momper noch Jutta Limbach und Ingrid Stahmer sowie einige weitere. Sie diskutieren, wie sich der Senat verhalten soll, falls DDR-Bürger anfingen, auf eigene Initiative über die Mauer zu klettern. Dass die SED-Spitze nicht mehr die Kraft haben wird, gewaltsam dagegen vorzugehen, ist den West-Berliner Regierungsmitgliedern klar: Wer die Proteste im Oktober in Leipzig und andernorts in der DDR nicht unterdrückt, wer auch die Großdemonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz einfach hinnimmt, der kann wohl kaum die innerstädtische Grenze mit tödlicher Gewalt verteidigen.

Jutta Limbach weiß auch, dass SED-Politbüromitglied Günter Schabowski dem Regierenden Bürgermeister bei einem vertraulichen Treffen am 29. Oktober angekündigt hat, zum ersten Advent solle sich West-Berlin auf einen Ansturm vorbereiten – bis dahin würde eine neue Reiseregelung in Kraft treten. Doch die Justizsenatorin glaubt nicht, dass die Menschen in der DDR sich die Reisefreiheit noch so lange werden vorenthalten lassen. Wird es zum – hoffentlich friedlichen – Sturm auf die Grenzübergänge kommen? Werden DDR-Bürger gar über die innerstädtische Mauer klettern, die sie seit 28 Jahren von der Freiheit trennt? Antworten darauf weiß Jutta Limbach keine, und sie rechnet auch nicht damit, dass es sie noch an diesem Tag geben wird.

Ein paar Kilometer weiter im Osten, in der Mauerstraße in Mitte, kommen an diesem Morgen gegen neun Uhr vier Juristen im Büro von Gerhard Lauter vom DDR-Ministerium des Inneren zusammen. Der Oberst ist seit Anfang Juni verantwortlich für das Pass- und Meldewesen im SED-Staat – für einen gerade erst 39 Jahre alten Mann eine große Verantwortung, zumal er selbst erkennt, fachlich relativ wenig Ahnung zu haben. Daher verlässt sich Lauter auf seine Mitarbeiter.

Am Nachmittag zuvor hatte der Oberst, der ungern seine Volkspolizei-Uniform trägt, einen besonders eiligen Auftrag erhalten: Er soll eine neue, vorläufige Reiseregelung ausarbeiten, die noch während der laufenden Sitzung des Zentralkomitees in Kraft treten soll – genau genommen am Morgen des 10. November 1989. Lauter hatte nur drei Tage zuvor im DDR-Fernsehen den ersten Entwurf für ein neues Reisegesetz halbherzig verteidigen müssen, obwohl er dessen Schwächen besser kannte als jeder andere. Einen ähnlich peinlichen Auftritt möchte er kein zweites Mal absolvieren müssen.

Also überrascht der Genosse seine drei Kollegen, darunter zwei Obristen der Stasi, mit einem unerhörten Vorschlag: Entgegen dem Auftrag der Partei- und Staatsführung will er nicht nur eine neue Regelung für die ständige Ausreise formulieren, sondern gleich noch die Erlaubnis für "Privatreisen". Zwar sollen weiterhin Kontrollen stattfinden, sowohl Ausreise als auch ein schlichter Ausflug auf die andere Seite der Berliner Mauer abhängig sein von der Genehmigung durch die Volkspolizei und vom Besitz eines Reisepasses, den nur wenige DDR-Bürger schon haben. Aber alle anderen Hürden sollen abgebaut werden. Das wäre etwas völlig Neues.

Die vier Offiziere ringen sich durch, dem SED-Politbüro und dem Ministerrat eine sehr allgemein formulierte, aber zugleich in Juristendeutsch abgefasste Regelung vorzuschlagen: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt."

Auch die beiden Stasi-Männer stimmen diesem Vorschlag zu – das MfS ist stets auf dem Laufenden. Als Zeitpunkt der Veröffentlichung legen Lauter und seine Kollegen den 10. November fest, um vier Uhr morgens. Auf diese Weise bleibt genug Zeit, die zuständigen Dienststellen der Volkspolizei über die neuen Regelungen zu informieren. Die Reisefreiheit mit Vorbehalt soll erst am Wochenende wirksam werden. Ihr Ziel ist es, den Druck ausreisewilliger DDR-Bürger vorläufig zu reduzieren, bis ein neues, weiter gehendes Reisegesetz in Kraft treten kann. Die Mauer zum Einsturz bringen wollen die vier Offiziere gerade nicht. Am späten Vormittag geben sie ihren Entwurf in den Geschäftsgang – zuerst zum Politbüro der SED, dann an die Regierung.

Schon vorher haben sich erste Gerüchte verbreitet, in Ost-Berlin werde eine neue Reiseregelung erarbeitet. Peter Brinkmann, Reporter der "Bild"-Zeitung, bekommt in Hamburg einen Anruf aus der West-Berliner Senatskanzlei, dass sich im anderen Teil der Stadt Wichtiges tue. Wer genau dem Senat diesen Tipp gegeben hat, ist unklar. Brinkmann macht sich sofort auf den Weg nach Ost-Berlin. Er ist als "Reisekorrespondent" zuständig für die Berichterstattung aus der DDR, weil die größte westdeutsche Zeitung kein festes Büro in Ost-Berlin unterhalten darf.

9. November 1989, 12 Uhr

Auch Walter Momper hört von den Gerüchten. In Ost-Berlin stehe eine wichtige Entscheidung bevor, heißt es. Sogar die Worte "Heute Abend geht die Mauer auf" fallen. Momper ist vorsichtig, gibt seinen für Verkehr und für Inneres zuständigen Senatoren aber doch kurze Warnungen weiter. Sie sollen sich auf den Fall der Fälle vorbereiten. In den kommenden zwei Stunden verdichten sich die Gerüchte. Weitere Journalisten fragen in der Senatskanzlei an, ob man Näheres wisse. Man weiß nichts, aber ist gespannt.

In der Raucherpause der ZK-Sitzung gegen zwölf Uhr trifft sich das Politbüro der SED zu einer kurzen Besprechung. Während sich die Mitglieder des gerade erst am Vortag neu gewählten Gremiums bei Zigaretten und Kaffee kurz entspannen, berichtet Generalsekretär Egon Krenz von der neuen Reiseregelung, die Oberst Lauter ausgearbeitet und vom Innenministerium herüber geschickt hat. Die Hälfte der obersten Parteiführung ist anwesend.

Krenz verliest den Entwurf und weist darauf hin, dass es noch am selben Tag verabschiedet werden soll. Es gibt nur eine kurze Diskussion, die sich vor allem um die Frage dreht, ob die Regelung mit der Sowjetunion abgestimmt sei? Krenz bestätigt das. Damit ist für die SED-Spitzenfunktionäre die einzig entscheidende Frage geklärt: Als treue Kommunisten und Parteisoldaten wollen sie nicht gegen den Willen des Großen Bruders in Moskau handeln. Auf zusätzlichen Ärger mit Michail Gorbatschow ist keiner aus – sie haben schon genügend Sorgen in ihrem eigenen Staat, denn kontinuierlich schwindet ihre jahrzehntelang betonierte Vormachtstellung.

Das Politbüro reicht den abgesegneten Entwurf für die neue Reisereglung, die am kommenden Morgen in Kraft treten soll, mit ganz wenigen Änderungen weiter an die formal zuständige DDR-Regierung, den Ministerrat. Im Umlaufverfahren sollen die 44 Minister das Papier absegnen, Termin: 18 Uhr.

Von alledem ahnt Wolfgang Koch nichts, als er sich am frühen Nachmittag mit den Mitgliedern seines Ensembles trifft. Sie packen ihre Utensilien zusammen, Kostüme, Verstärker und Instrumente, um gemeinsam nach Hoyerswerda zu fahren – das "Berliner Sündikat" hat einen Auftritt im "Haus der Berg- und Energiearbeiter". Es ist ein Engagement der eher unangenehmen Art: Die Kabaretttruppe soll eine "Erfinderkonferenz" auflockern. Koch machen solche Termine keinen Spaß: Als Muntermacher spielen seine Kollegen und er zwischen langweiligen Vorträgen die eine oder andere Nummer aus ihrem Programm. Aber bezahlt wird pro Mann, und dieses Geld kann das "Sündikat" gut gebrauchen. Voller Stolz zeigt der Kabarettchef auf der Fahrt nach Sachsen seinen Mitstreitern den Pass mit dem frischen Visum.

Nach der Fahrt von Hamburg nach Berlin reiht sich Peter Brinkmann am innerstädtischen Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in die Schlange von Autos ein, deren Ziel Ost-Berlin ist. Der "Bild"-Reporter musste erst per Transit in den Westteil der Stadt fahren und dann zu Besuch in den anderen Teil der Stadt. So sind die Regeln. Bei der Kontrolle durch die DDR-Posten, für ihn bereits die dritte heute, fällt ihm nichts Besonderes auf. Was immer sich zusammenbraut – von einer bevorstehenden Öffnung der Grenze gibt es hier an diesem speziell für Westdeutsche eingerichteten Übergang noch keine Anzeichen.

Brinkmanns Ziel ist das Internationale Pressezentrum der DDR-Regierung in der Mohrenstraße. Normalerweise werden hier nur langatmige Verlautbarungen auf SED-Parteichinesisch verkündet – kaum der Stoff, der Journalisten interessiert. Doch er spürt, dass heute noch etwas passieren könnte. Kaum ist Brinkmann im Pressezentrum eingetroffen, hängt er sein Jackett über einen Stuhl im noch völlig leeren Saal – genau gegenüber des wichtigsten Mikrofons, an dem in einigen Stunden Günter Schabowski Platz nehmen wird, Mitglied des SED-Politbüros und Medienbeauftragter der Partei.

Um unabhängig zu sein von den offiziellen Telefonleitungen, die mit Sicherheit von der Stasi abgehört werden, hat Brinkmann ein Mobiltelefon bei sich. Das Gerät funkt im C-Netz, ist ein unförmiger Kasten von der Größe eines Aktenkoffers und wählt sich in das West-Berliner Netz ein. Doch die DDR verbietet ausdrücklich die Einfuhr sämtlicher Funkgeräte. Genau genommen macht sich Brinkmann nach DDR-Recht strafbar. Deshalb hat er in seinem Auto ein geeignetes Versteck für das Gerät: einen Koffer mit schmutziger Wäsche. Aber natürlich darf er sich beim Telefonieren nicht erwischen lassen.

Nach der Mittagspause widmet sich Jutta Limbach wieder ihren normalen Amtsgeschäften. Die Justiz in West-Berlin ist ein komplexer Apparat, zu dem die Gerichte ebenso gehören wie die Staatsanwaltschaft und Gefängnisse. Am Abend muss sie wieder repräsentieren, also schafft sie jetzt erst einmal so viel Arbeit wie möglich von ihrem Schreibtisch.

Während das Reisekabarett "Sündikat" in zwei Trabants gen Hoyerswerda rollt und Peter Brinkmann im Pressezentrum zwischen der Kantine und dem Saal pendelt, um weitere Gerüchte aufzuschnappen und seinen reservierten Platz in der ersten Reihe zu verteidigen, informiert Egon Krenz das ZK über die neue Reiseregelung.

9. November 1989, 16 Uhr

Der Generalsekretär unterbricht die Tagesordnung des strikt geheim tagenden Gremiums: "Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen den falschen Schritt. Schließen wir die Grenzen zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können und auf diese Art und Weise ihren Einfluss auf uns ausüben." Dann verliest der Generalsekretär Punkt für Punkt den Entwurf, einschließlich der Frist 10. November 1989 für die Veröffentlichung, und fährt fort: "Ich sagte: Wie wir's machen, machen wir's verkehrt. Aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist."

Krenz geht davon aus, dass sich die Reisereglung auf die ständige Ausreise von DDR-Bürgern bezieht – er überliest die Bedeutung der Formulierung über die "Privatreisen". Nach kurzer Diskussion beschließt das Zentralkomitee den minimal abgeänderten Entwurf. Die meisten ZK-Mitglieder sind im Saal, nur ein wichtiger Funktionär fehlt: Günter Schabowski.

In Hoyerswerda beginnen Wolfgang Koch und sein Ensemble, die Gerätschaften für ihren Auftritt aufzubauen. Dabei hören sie den Vortrag eines Erfinders mit, der die Produktion einer neu konstruierten Kaffeemaschine vorschlägt. Bei ihr soll das heiße Wasser nicht einfach auf gemahlene Bohnen im Filter tropfen, sondern aus einem spiralförmig angeordneten Röhrchen tangential durch das Kaffeepulver gedrückt werden. Der ganze Aufwand soll für mehr Kaffee aus weniger Bohnen sorgen – und so die knappen Devisenreserven der DDR schonen.

Koch fragt sich, ob angesichts solcher Vorschläge ein professionelles Unterhaltungsprogramm überhaupt notwendig ist – doch ein Blick ins Publikum überzeugt ihn: Gelangweilt verfolgen die versammelten Erfinder die Vorträge ihrer Kollegen. Die tiefere Komik des Vorschlags, die der Kabarettist sofort spürt, entgeht ihnen.

Inzwischen ist es kurz vor 18 Uhr. Während im ZK weiter ungewohnt deutlich über die künftige Politik der SED gerungen wird, eröffnet Jutta Limbach im Reichstagsgebäude die Diskussion mit den Rechtspolitikern des Europaparlaments. Walter Momper begibt sich zum scheinbar glanzvollsten Termin des Abends: Im Haus des Axel Springer Verlages an der Kochstraße, direkt an der Mauer, wird das "Goldene Lenkrad" verliehen, der Preis für die besten Autos des Jahres 1989.

9. November 1989, 18 Uhr

Pünktlich betritt Günter Schabowski den inzwischen bis auf den letzten Platz besetzten Saal des Pressezentrums in der Mohrenstraße. "Bild"-Reporter Brinkmann hat seinen Platz in der ersten Reihe erfolgreich verteidigt und hofft, dass sich die umherschwirrenden Gerüchte über eine wichtige Entscheidung bewahrheiten. Seine Erwartung wird enttäuscht. Mehr als eine Dreiviertelstunde lang ergeht sich der frühere Chefredakteur des Parteiorgans "Neues Deutschland" in den üblichen SED-Floskeln.

Peter Brinkmann ist gelangweilt. Er will wissen, was an den Gerüchten über eine neue Reiseregelung dran ist! Doch als er das Mikrofon bekommt, um eine Frage zu stellen, vergisst er, was ihn eigentlich interessiert. Stattdessen sagt er: "Hier ist die ,Bild'-Zeitung. Wenn Sie das alles machen wollen, mit freier Presse – wird dann die Zensur aufgehoben?" Kaum sitzt Brinkmann wieder und hört Schabowskis nichtssagende Antwort, ärgert er sich über sich selbst: Warum stellt er eine so unbedeutende Frage? Weshalb nutzt er die Chance nicht besser? "Völlig idiotisch", sagt sich der erfahrene Reporter.

Im Reichstag debattiert Jutta Limbach über europäische Rechtspolitik. Beim "Goldenen Lenkrad" genießt Walter Momper das Gefühl, als Stadtoberhaupt umschwärmt zu werden. In Hoyerswerda versuchen die Berliner Kabarettisten, ihre gut hundert Zuhörer aufzumuntern. Im Pressezentrum an der Mohrenstraße neigt sich die Pressekonferenz ihrem Ende zu. Wird noch etwas Berichtenswertes passieren?

Das fragen sich im Axel Springer Haus auch Bruno Waltert, der Chefredakteur der Morgenpost, und sein Stellvertreter Jochim Stoltenberg. Die Frühform der Zeitung ist gerade in den Druck gegangen, nun schauen sich die beiden gemeinsam die Live-Übertragung der Pressekonferenz aus Ost-Berlin an. Journalistisches Pflichtprogramm, ebenso wie die Hauptausgabe der DDR-Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" – jedenfalls seit Honeckers Sturz, denn zuvor konnte man sich die Verlautbarungen der SED getrost sparen.

Nach längerer Wartezeit ist im Saal an der Mohrenstraße der italienische Korrespondent Riccardo Ehrman an der Reihe, eine Frage zu stellen. Er ist zu spät gekommen, hat keinen Sitzplatz mehr bekommen, also verfolgt er die Pressekonferenz kauernd am Rande des Podiums.

Ehrman hat am Nachmittag einen Tipp bekommen, vom Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN, Günter Pötschke. Der ist selbst Mitglied des ZK und hat gehört, dass vom folgenden Tag an eine neue Reiseregelung gelten soll. Also ruft er seinen Bekannten Ehrman an – ein gängiges Verfahren, um bei Pressekonferenzen Akzente zu setzen.

Der ADN-Chef rät dem Italiener, nach dem Entwurf des Reisegesetzes zu fragen, das wenige Tage zuvor veröffentlicht wurde und bei den Menschen in der DDR wegen zahlreicher Einschränkungen auf wenig Verständnis gestoßen ist. Vom Entwurf der neuen Reiseregelung ahnt der Korrespondent nichts.

9. November 1989, 18.52 Uhr

Endlich bekommt Ehrman das Wort: "Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?" Schabowski reagiert instinktiv. Ein Mitglied des Politbüros wird gefragt, ob die SED einen Fehler gemacht habe? Die Partei, die bekanntlich "immer Recht" hat? Da kann es nur eine Antwort geben: "Nein, das glaube ich nicht."

Jetzt erinnert sich Schabowski, das Krenz ihm doch bei der ZK-Sitzung ein Papier in die Hand gedrückt hat, auf dem die neue Reiseregelung steht. Er solle es mitnehmen in die Pressekonferenz, sagte der Generalsekretär dazu noch. Doch Schabowski ist nicht dazu gekommen, es vor seinem Auftritt zu lesen.

Er sucht in dem dicken Bündel vor sich auf dem Tisch nach den zwei Seiten; ein Mitarbeiter hilft ihm. Die Zeit überbrückt Schabowski mit floskelhaften Sätzen, die wie Gestammel wirken: "Es ist eine Abfolge von Schritten, und die Chance, also durch Erweiterung von Reisemöglichkeiten, die Chance also, durch die Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise, die Menschen aus einer, sagen wir einmal psychischen Drucksituation zu befreien – viele dieser Schritte sind ja im Grunde genommen unüberlegt erfolgt."

So geht es weiter, fast drei Minuten lang. Als Günter Schabowski das Papier endlich in Händen hält, ist es 18.55 Uhr. Er macht eine Atempause und setzt neu an: "Allerdings ist heute, soviel ich weiß, eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Reisegesetz den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der – wie man so schön oder so unschön sagt – die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht über einen befreundeten Staat, was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen."

Schon seit Ehrmans Frage ist es im Saal immer unruhiger geworden. Viele der versammelten Journalisten haben das Gerücht gehört, es werde eine neue Reiseregelung geben. Ein Reporter ruft Schabowski zu: "Das gilt...", ein anderer: "Ab wann tritt das..." Gleichzeitig setzt Ehrman nach: "Ohne Pass?"

In diese Unruhe hinein stellt Peter Brinkmann, dessen Stimme weit trägt, eine knappe klare Frage: "Ab sofort?" Schabowski ist von der Reaktion der Journalisten überrascht und verwirrt. Er spricht die Vertreter der Weltpresse als "Genossen" an und fährt fort: "Mir ist das hier also mitgeteilt worden, dass eine solche Mitteilung heute schon verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in ihrem Besitz sein."

9. November 1989, 18.57 Uhr

Dann liest Günter Schabowski die Sätze über "Privatreisen" vom Blatt ab, die Oberst Lauter und seine drei Offizierskollegen sechs Stunden zuvor aufgeschrieben haben. Er ahnt nicht, dass im selben Moment der Autor, Gerhard Lauter, mit dem Justizminister der DDR telefoniert, weil der noch Einwände gegen einzelne Formulierungen hat. Rein formal ist die Zustimmung im Umlaufverfahren noch nicht erteilt, als Schabowski den Entwurf bereits live im Fernsehen verliest.

Wichtiger aber ist: Weil Lauter gerade telefoniert, verfolgt er die Pressekonferenz nicht und erfährt nicht, dass die festgelegte Sperrfrist gerade gebrochen ist. Nach dem Telefonat hat es Lauter eilig, denn er hat an diesem Abend Theaterkarten.

Zahlreiche Reporter ahnen, dass sie gerade etwas sehr Wichtiges erleben. Aber was genau? Gilt die eben verkündete neue Reiseregelung wirklich ab sofort? Schabowski reagiert nervös auf die Nachfragen, ja unsicher: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

Peter Brinkmann will es genau wissen und ruft noch einmal: "Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt." Und wieder weiß der Spitzenfunktionär nicht, was er sagen soll. Schabowski schaut abermals in seine Papiere: "Also, doch, doch..." und liest noch einmal ab: "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen." Verunsichert beendet der SED-Mann nun die Pressekonferenz rasch – er hat dem US-Sender NBC ein persönliches Interview versprochen. Es ist 19.01 Uhr.

Wie die meisten Journalisten im Saal des Pressezentrums ist auch Peter Brinkmann unschlüssig. Was hat er gerade erlebt? Ist das wirklich wahr? Und was bedeutet die neue Reiseregelung tatsächlich? Fällt jetzt die Berliner Mauer?

9. November 1989, 19.02 Uhr

Am schnellsten fängt sich der Vertreter der britischen Nachrichtenagentur Reuters. Nur eine Minute nach dem Ende der Pressekonferenz gibt der deutsche Dienst seines Unternehmens bereits die erste Eilmeldung heraus: "Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich – Schabowski" lautet der Text schlicht. Sekunden später schickt Reuters Details auf die Ticker: "Ausreisewillige DDR-Bürger können ab sofort über alle Grenzübergänge der DDR in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Das teilte SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am Donnerstagabend vor Journalisten in Ost-Berlin mit. Schabowski sagte, die Ausreisewilligen bräuchten nicht mehr den Umweg über die Tschechoslowakei zu nehmen. Die zuständigen Ämter der Polizei seien angewiesen worden, Visa für die Übersiedlung sofort auszustellen."

Um 19.04 Uhr sendet die wichtigste deutsche Agentur, dpa, ihre erste Vorrangmeldung: "Von sofort an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen." Auch in Ost-Berlin reagiert man schnell. Bei ADN liegt der vollständige Text der neuen Reiseregelung sendefertig bereit. Eigentlich sollte diese Meldung erst am kommenden Morgen um vier Uhr geschickt werden. Doch da Schabowski die Sperrfrist außer Kraft gesetzt hat, lösen die Redakteure die Sendung jetzt bereits aus. Damit liegt binnen weniger Sekunden der genaue Text der Verlautbarung bei Dutzenden Agenturen, Zeitungsredaktionen und Fernsehsendern vor.

Morgenpost-Chefredakteur Bruno Waltert schnappt sich die ersten Tickermeldungen und fährt hinauf in den 18. Stock des Verlagshauses, zur Verleihung des "Goldenes Lenkrades". Er informiert Walter Momper, der nicht völlig, aber ziemlich überrascht ist. Der Regierende Bürgermeister macht sich auf zum Sender Freies Berlin, um in der "Abendschau" aufzutreten.

Derweil schickt Jochim Stoltenberg alle verfügbaren Reporter und Fotografen los: Was ist dran an den Agenturmeldungen? Geht die Mauer wirklich auf? Auch nach Ost-Berlin brechen mehrere Journalisten auf; seit kurzem hat die Morgenpost einige Dauerakkreditierungen. Viel Zeit haben sie nicht: Um 22.30 Uhr muss die Hauptausgabe der auflagenstärksten Abonnementszeitung West-Berlins in Druck gehen.

9. November 1989, 19.17 Uhr

Gegen Ende der "Heute"-Sendung im ZDF verliest der Sprecher eine Meldung, die ihm kurz zuvor gereicht worden ist: "Noch einmal zurück nach Ost-Berlin. SED-Politbüromitglied Günter Schabowski hat vor wenigen Minuten mitgeteilt, dass von sofort an DDR-Bürger direkt über alle Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ausreisen dürfen. Mit dieser heutigen Entscheidung sei eine Übergangsregelung bis zur Verabschiedung des neuen Reisegesetzes geschaffen worden. Schabowski äußerte sich vor der internationalen Presse."

Das Politbüro-Mitglied geht derweil zu seiner Verabredung mit Tom Brokaw. Schabowski ahnt nicht, was er gerade ausgelöst hat, findet aber zu seiner Selbstsicherheit zurück. Er gibt dem US-Starreporter das Interview, weil er auf Englisch antworten kann.

Vor laufender NBC-Kamera sagt Schabowski nun noch einmal, was DDR-Bürger seiner Ansicht nach "ab sofort" dürfen: "They are not further forced to leave GDR by transit through another country." Brokaw fragt nach: "It is possible for them to go through the wall...?" Schabowski antwortet: "It is possible for them to go through the border."

Vergeblich versucht Peter Brinkmann, seine Redaktion in Hamburg anzurufen. Mit dem Funktelefon bekommt er keine Verbindung. Nicht einmal über die von der Stasi überwachten Apparate des Pressezentrums kommt er durch. Aber das ist jetzt egal. Bestimmt wissen die Kollegen bei "Bild" schon, was vor sich geht. Jetzt kommt es darauf an, am Ort des Geschehens zu sein und die Folgen zu beobachten. Brinkmann geht in sein Quartier, das Grand Hotel Unter den Linden, zieht sich warm an und macht sich auf zur Grenze. Er will nach und nach alle Übergangsstellen abfahren und schauen, was passiert.

"Wir fluten jetzt", mit diesem Satz öffnen Stasi-Offiziere den ersten Grenzübergang an der Bornholmer Straße. Danach gibt es auch an den anderen Übergängen kein Halten mehr. Das größte Fest der Stadt beginnt

Nur ein paar Meter westlich der Mauer ahnt Jutta Limbach nichts von den jüngsten Entwicklungen. Fast zwei Stunden bleibt sie im Reichstag abgeschnitten von der Weltsensation. Denn niemand stört die Debatte der Europa-Parlamentarier und informiert sie. Auch nicht, als die "Tagesschau" um 20 Uhr mit der Meldung aufmacht: "DDR öffnet Grenze". Jo Brauner verliest die gerade erst geschriebenen Sätze mit ungerührter Miene.

9. November 1989, 20.10 Uhr

An den innerstädtischen Grenzübergängen versammeln sich auf Ost- und Westseite erste Menschen. Einige Redakteure der linken "Tageszeitung", die eben noch im "Cafe Adler" gesessen haben, überschreiten den weißen Strich, der hier den Verlauf der Sektorengrenze markiert. Sie betreten die DDR-Kontrollstelle und werden von als Grenzern kostümierten Stasi-Männern höflich, aber bestimmt zurückgewiesen. Der unerwartete Vorfall wird genau protokolliert: "Circa zehn Personen vom Cafe Adler mit Tablett (Sekt, Kaffee) bis Sperre 1, wollten anstoßen, verwiesen." Die "taz"-Redakteure kommen zurück nach West-Berlin, werden fotografiert – und die Aufnahmen gehen mit der falschen Erläuterung "Erste DDR-Flüchtlinge nach dem neuen Reiseerlass mit großem Jubel begrüßt" um die Welt.

In Hoyerswerda macht das "Sündikat" gerade Pause. Die Kabarett-Truppe sitzt in einem Nebenraum und ruht sich aus, als ein Kellner herein kommt. "In Berlin ist irgendwas los", sagt er. "Die Mauer soll offen sein!" Wolfgang Koch ist sich sicher: Der Mann muss einen über den Durst getrunken haben. Doch wenig später berichtet eine Serviererin dasselbe. Die Kabarettisten werden unruhig. Die Frau in der Truppe, Walburga Raeder, geht zum Telefon und ruft zuhause an. Dort müsste ihr Mann sitzen – doch Herr Raeder ist schon auf dem Weg zur Mauer. Die Kabarett-Truppe hat noch ihr halbes Programm vor sich. Wie nie zuvor sehnen sie das Ende ihres Auftritts herbei.

In Berlin strömen Menschen zu den Grenzübergängen, doch noch halten die Grenzer die Sperranlagen dicht. 450 Kilometer westlich, im Bundestag in Bonn, schreitet die Geschichte einen kleinen Schritt schneller voran. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters gibt gegen 21 Uhr in der laufenden Debatte über das Vereinsförderungsgesetz bekannt, dass die DDR ihre Grenzen geöffnet habe: "Damit wird praktisch erstmals Freizügigkeit für die Deutschen in der DDR hergestellt." Spontan stimmen die Abgeordneten die Nationalhymne an: "Einigkeit und Recht und Freiheit".

Doch von einem großen Ansturm ist in Berlin noch nichts zu spüren. Nur an der Bornholmer Straße, dem großen Übergang von Prenzlauer Berg nach Wedding, stehen schon gegen 21.20 Uhr über hundert Trabant, dazu 500 bis 1000 DDR-Bürger. Sie wollen wissen, was die Ankündigung von Schabowski wert ist – und werden enttäuscht: "Liebe Bürger, wir machen Ihnen eine Mitteilung über die Möglichkeit des Ausreisens der unmittelbaren Staatsgrenze nach Berlin (West) und BRD", verkündet ein Grenzer per Megafon: "Es ist nicht möglich, Ihnen hier und jetzt die Ausreise zu gewähren!" Ärger macht sich breit.

9. November 1989, 21.30 Uhr

Die Kontrolleure von der Stasi wissen sich nicht mehr anders zu helfen, als besonders lautstarke und unzufriedene DDR-Bürger einzeln durch die Kontrollbaracken zu lassen. Jeder bekommt einen Stempel in den Personalausweis gedrückt, quer über das Foto. Ohne dass sie es erfahren, werden sie ausgebürgert aus der DDR. Ihnen soll die Wiedereinreise verweigert werden. Zwischen Stasi-Zentrale und Grenzübergangsstellen ist diese "Ventillösung" ausgeheckt worden. Auf diese Weise kommen gegen 21.30 Uhr die ersten Ost-Berliner in den Westen. Nach 28 Jahren bekommt die Mauer erste Risse.

Nun erfährt Jutta Limbach, dass sich Bedeutendes ereignet. Ein Mitarbeiter teilt ihr mit, dass Walter Momper alle Mitglieder der Landesregierung zu einer Sondersitzung im Schöneberger Rathaus erwartet, gegen 22 Uhr. Die Justizsenatorin macht sich sofort auf den Weg, kommt aber als eine der Letzten im Senatssaal an. Die Sitzung ist kurz, denn im Grunde wissen alle, was nötig ist: Notfallpläne bei BVG und Polizei werden in Kraft gesetzt, die schon im Hinblick auf die für Anfang Dezember angekündigte Grenzöffnung konzipierten Vorbereitungen für eine schnelle Auszahlung des "Begrüßungsgeldes" vorgezogen.

J

utta Limbach geht hinüber in ihr Büro, um den Justizapparat in Gang zu setzen. Am nächsten Morgen müssen alle Gerichtsgebäude geöffnet sein, um als Anlaufpunkt zu dienen. Viel Organisationsbedarf, nach einem ohnehin schon langen und anstrengenden Tag. Aber die Senatorin ist dennoch euphorisch: "Wenn das meine Eltern noch erlebt hätten!", sagt sie sich immer wieder.

In Hoyerswerda nähert sich das "Berliner Sündikat" dem Ende des gebuchten Programms. Kaum ist die letzte Nummer vorbei, packen sie ein – auf die üblichen Zugaben muss das Publikum an diesem Abend verzichten.

Zurück nach Berlin, so schnell wie möglich – das ist es, was Wolfgang Koch und seine Kollegen wollen. Zwei Stunden Fahrt liegen vor ihnen. Mit ihren beiden Trabbis rauschen sie los, doch nur einer hat ein Autoradio, das aber auch lediglich Lang- und Mittelwelle empfängt. Bert, der Bassist der Truppe, dreht ständig am Frequenzknopf, doch er findet keinen Sender, der über die aktuellen Ereignisse berichtet.

An Informationen herrscht in der Redaktion der Morgenpost kein Mangel – wohl aber an Zeit. Immer näher rückt der Termin für den Andruck der Berlin-Ausgabe. Die Chefredakteure Waltert und Stoltenberg legen die Schlagzeile fest. Der Ton muss stimmen, auch am folgenden Morgen noch. Die beiden Journalisten fühlen sich sicher genug, um zu formulieren: "DDR öffnet alle Grenzen – Abriss der Mauer wird bereits diskutiert." Das ist in die Zukunft gedacht, denn der Todesstreifen ist keineswegs gefallen. Zwar dürfen einzelne DDR-Bürger nach Kontrollen die Grenze überschreiten, aber noch halten die Stasi-Kontrolleure auf den Übergangsstellen an ihrer Macht fest.

9. November 1989, 22.42 Uhr

Wegen einer Fußballübertragung etwas verspätet beginnen die ARD-"Tagesthemen". Moderator ist Hanns-Joachim Friedrichs, der weißhaarige Grandseigneur des deutschen Fernsehens. "Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen."

Das kann Robin Lautenbach eigentlich nicht bestätigen. Der SFB-Reporter steht auf westlicher Seite der Mauer und berichtet live, exakt um 22.47 Uhr: "Hier in der Invalidenstraße auf der anderen Seiten haben die Grenzpolizisten offenbar diese Weisung noch nicht bekommen oder sie haben sie nicht verstanden. Aber an sehr vielen anderen Grenzübergängen, nicht nur in der Bornholmer Straße, wir haben es auch gehört von der Sonnenallee und vom Ausländerübergang Checkpoint Charlie, ist es offenbar bereits möglich, mit dieser neuen Regelung völlig komplikationslos nach West-Berlin zu kommen." Das stimmt nicht, aber Lautenbach kann von der "Ventillösung" der Grenzer nichts wissen.

Erst jetzt kommt es zum Ansturm auf die Mauer, gleichermaßen von Ost wie West. Der evangelische Pfarrer Rainer Eppelmann, von der SED lange als "Staatsfeind Nr. 1" betrachtet und mit allerlei Schikanen verfolgt, kommt gerade von einem Informationstreffen in der Französischen Friedrichstadtkirche in Mitte zurück nach Hause in Friedrichshain. Er hört, dass die Mauer gefallen sei, und macht sich sofort mit dem Ost-Berliner Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann auf den Weg.

Im Dienst-Trabant fahren die beiden Pfarrer soweit wie möglich Richtung Grenze, zur Bornholmer Straße. Geschickt bahnen sich die beiden Pfarrer dort ihren Weg durch Hunderte wartende Menschen, bis sie ganz vorn am Schlagbaum der Kontrollstelle stehen. Keine Spur von Maueröffnung. Dafür werden die Sprechchöre immer lauter. Aus Tausenden Kehlen schallt es jetzt: "Tor auf! Tor auf!"

Die Stasi-Leute, Grenzer und DDR-Zöllner auf dem eingezäunten Areal der Kontrollstelle bekommen es mit der Angst zu tun. Sie sind vielleicht 55, höchstens 60 Mann – obwohl der amtierende Kommandeur des Übergangs, Oberstleutnant Harald Jäger, bereits jeden verfügbaren Mann hat kommen lassen. Jenseits der Gittertore und Schlagbäume stehen aber zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend Menschen.

Gewiss: Die Uniformierten haben Waffen. Jeder trägt eine Makarow, außerdem liegen in den Wachlokalen einige Maschinenpistolen. Doch seit Anfang April 1989 ist der Gebrauch von Schusswaffen an der Mauer untersagt. Und was würde passieren, wenn Jäger seine Leute in die Masse feuern ließe? Dem Stasi-Mann schwant, dass die Menschenmassen dann nicht zurückweichen, sondern vorwärts kommen könnten, um ihn und seine Leute zu lynchen. Der Oberstleutnant erkennt: Wenn er den Befehl zum Schießen erteilt, verurteilt er seine Männer zum Tode. Und sich selbst auch.

9. November 1989, 23.30 Uhr

Harald Jäger ringt sich durch und weist seine Leute an: Kontrollen einstellen, Tore öffnen und Schlagbäume aus dem Weg schwenken! Ein Stasi-Offizier teilt die unabwendbare Entscheidung dem diensthabenden Grenztruppen-Major mit den Worten mit: "Wir fluten jetzt!"

Auf der anderen Seite der Absperrung steht Rainer Eppelmann. Mit Hülsemann und anderen hebt er den Schlagbaum hoch. Doch während die meisten DDR-Bürger sofort über die Kontrollstelle Richtung Westen laufen, suchen sich die beiden Pfarrer einen Platz am Rand und schauen dem Treiben zu. Sie mögen in dieser Nacht nicht nach West-Berlin laufen. Nicht aus Angst vor der SED-Diktatur; die hat Eppelmann schon lange abgelegt. Aber als führendes Mitglied der kurz zuvor gegründeten Oppositionspartei "Demokratischer Aufbruch" will er die DDR verändern.

Auf der Autobahn Richtung Berlin sind die beiden "Sündikat"-Trabbis jetzt in den Empfangsbereich des Rias gekommen. Vor ihnen macht ein anderes Auto wilde Lichtzeichen; gemeinsam rollen die drei Fahrzeuge auf den nächsten Parkplatz. Der Wagen hat ein Autoradio, das UKW empfängt, und Wolfgang Koch hört zum ersten Mal an diesem Abend mit eigenen Ohren die Sensation: "Ganz Berlin feiert eine große Party!", haucht der Moderator heiser ins Mikrofon. Es ist wahr, die Mauer ist offen.

Nach kurzer Beratung entschließt sich die achtköpfige Truppe, den nächsten Grenzübergang anzusteuern, die Sonnenallee. Die neue Reisefreiheit wollen sie sofort ausprobieren.

Nach den nötigsten Vorbereitungen im Büro lässt sich Jutta Limbach nach Hause fahren. Seit sie als Mädchen den Krieg überstanden hat, bekommt sie in Menschenmassen Angstzustände. Also will sie, statt an die Mauer oder gar ans Brandenburger Tor, lieber nach Zehlendorf. Vor dem Fernseher kann sie sich genauso gut informieren wie auf der Straße.

Dafür sorgen viele Journalisten, die Schwerstarbeit leisten. SFB und ZDF sind mit gleich mehreren Teams unterwegs, Georg Mascolo von Spiegel-TV hat den ganz großen Glücksgriff getan und ist mit seinem Kameramann seit Stunden am Übergang Bornholmer Straße; auch, als die Mauer tatsächlich aufgeht.

10. November 1989, 1 Uhr

Auch Peter Brinkmann und sein Kollege Hennes Schulz von der Berliner "Bild"-Redaktion sind unterwegs, um Stimmungen entlang der Grenze einzufangen. Doch wie bringen sie ihre Notizen hinüber nach West-Berlin? An direkte Gespräche über DDR-Telefone oder auch über das C-Netz-Funktelefon ist nicht zu denken. Kurzerhand engagieren die beiden Reporter, bald nach Mitternacht, eine Deutsch-Russin namens Nelly als Kurierin. Immer wieder überschreitet sie in dieser Nacht die nun völlig offenen Übergänge und bringt Notizen zum Axel Springer Verlag. 1Dort machen auch die Redakteure der Morgenpost Überstunx den. Zwischen zwei und drei Uhr nachts, viel später als üblich, aktualisieren sie die Zeitung zum letzten Mal. Danach geht technisch nichts mehr: Es ist endgültig Redaktionsschluss. Doch Ruhe kehrt damit nicht ein. Vor dem kupfernen Hochhaus, das seit 1966 wie ein Leuchtturm der Freiheit direkt an der Mauer nach Ost-Berlin hineingestrahlt hat, drängen sich unzählige DDR-Bürger, zum ersten Mal jenseits der Mauer. Die Kantine schickt frisch gebrühten Kaffee hinunter. Hier wie auch am Kurfürstendamm und vielen anderen Orten West-Berlins wird gefeiert.

Zum Mitfeiern kommt die Mannschaft der Morgenpost in dieser Nacht kaum. Die Redakteure bereiten ein zweiseitiges Extrablatt vor, das am kommenden Vormittag auf den Straßen verteilt werden soll. Darin stehen die Geschichten, die für das Hauptblatt zu spät kommen. Die Schlagzeile lautet: "Historische Stunden in Berlin".

Endlich sind Wolfgang Koch und seine Kollegen angekommen. Über den Königsheideweg fahren sie zur Baumschulenstraße. Doch schon weit vor dem Grenzübergang Sonnenallee sehen sie einen Riesentross von Menschen, in den sie sich einreihen. Die Stimmung ist gelöst, ja fröhlich. Manche fallen Koch auf, weil sie sich mit Koffern und Kisten abschleppen. Auch in dieser Nacht der Freude gibt es DDR-Bürger, die an eine dauerhafte Öffnung der Grenzen nicht glauben, die sofort die Chance nutzen möchten, die SED-Diktatur für immer zu verlassen.

Der Kabarettist sieht das anders: Hat er nicht einen gültigen Reisepass mit Visum bei sich? Doch als er zusammen mit seinen Freunden in die enge und völlig überfüllte Kontrollstelle geradezu hineingesogen wird, interessiert sich kein Grenzer für den Stempel, der ihm nur wenige Stunden zuvor so große Freude gemacht macht. Vielleicht ist Wolfgang Koch der einzige Ost-Berliner, der in dieser Nacht mit einem am 9. November 1989 ausgestellten, "gültigen Reisedokument" nach West-Berlin gelangt.

Nach einiger Zeit am Grenzübergang gehen Hülsemann und Eppelmann heim, ohne auf die andere Seite der Grenze gewechselt zu sein. Auf dem Weg kommen sie an einer kleinen Bäckerei vorbei. Sie hat mitten in der Nacht aufgemacht und verkauft übrig gebliebene Backwaren an jene DDR-Bürger auf dem Weg nach West-Berlin, die sich noch gegen Ostmark mit Proviant eindecken möchten. Es ist der erste kleine Triumph der Markt- über die Planwirtschaft.

Viel geschlafen wird in dieser Nacht in Berlin nicht. Um sechs Uhr morgens kommt Peter Brinkmann zurück in sein Hotel. Jochim Stoltenberg kehrt zurück in die Redaktion, um die nächste Ausgabe vorzubereiten. Jutta Limbach lässt sich in ihr Senatorenbüro fahren. Ihnen allen ist klar, dass die Bewährungsprobe jetzt erst beginnt. Nach der Feier muss nun unendlich viel organisiert werden.

Doch es ist gar nicht nötig, dass die Senatoren ihre Verwaltungen auf Trab bringen. Die positive Stimmung schlägt durch: Fast alle Justizbeamten, vom Pförtner bis zum Oberstaatsanwalt, übernehmen bereitwillig die ungewohnte Aufgabe, Begrüßungsgeld auszuzahlen. Selbst die Richter, qua Verfassung unabhängig, machen mit.

Am frühen Morgen ist Wolfgang Koch in seine Wohnung nahe der Vinetastraße zurückgekommen. Doch statt zu schlafen, verabredet er sich mit seinem Bruder, der seit seiner Flucht 1971 in West-Berlin lebt, um gemeinsam mittags ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen.

Schon um neun Uhr geht Koch zu Fuß los, um möglichst viel von der ganz besonderen Stimmung dieses Tages mitzubekommen. Als er die Bornholmer Straße erreicht, bis vor wenigen Stunden für die meisten DDR-Bürger eine Sackgasse, wundert er sich über die Menschenmassen, die in beide Richtungen unterwegs sind. Die Grenzöffnung ist schon beinahe Normalität. Ein älterer Mann ruft neben Koch einem zur Grenze eilenden, aufgeregten Jugendlichen nach "Wat rennste denn bloß so, Dich verfolcht doch keener!"

Aus der völligen Freiheit der Nacht ist inzwischen wieder, jahrzehntelange Erfahrung bringt es mit sich, eine diszipliniert wartende Schlange geworden. Doch die Grenzer machen keine Schwierigkeiten. Koch muss seinen Pass nicht vorzeigen.

10. November 1989, 10 Uhr

Im Funkhaus der SFB an der Masurenallee kommen die Redakteure der Sendung "SF-Beat" zur Morgenkonferenz zusammen. Was kann man tun in dieser Situation? Die Runde ist sich schnell einig: Ein "Konzert für Berlin", mit deutschen und internationalen Stars bei freiem Eintritt – das wäre es. Aber ist das möglich?

Der Wortredakteur Thomas Diekmann übernimmt, zusammen mit Musikchef Helmut Lehnert, die Organisation. Auch ihre Kollegen versuchen, Musiker zu gewinnen. Mit als erste sagt die Kölner Gruppe BAP zu, auch Heinz-Rudolf Kunze, Ulla Meinecke und Konstantin Wecker, aus Ost-Berlin unter anderem Silly mit Sängerin Tamara Danz und Pankow. Schwieriger ist es mit den internationalen Stars.

In Paris hört derweil Mstislaw Rostropowitsch im Radio die Nachrichten. Das beherrschende Thema auch hier ist der Fall der Berliner Mauer. Der weltbekannte Cellist weiß sofort, wo jetzt sein Platz ist: am Checkpoint Charlie. Er ruft einen Freund an, den Eigentümer einer Supermarktkette, und bittet ihn um sein Privatflugzeug. Rostropowitsch will nach Berlin.

Im Axel Springer Haus wird weiter im Akkord gearbeitet. Dann ein Anruf: Der Senat bittet um Unterstützung. Kann die Morgenpost für den absehbaren Ansturm ein mehrseitiges Extrablatt erstellen? Mit möglichst vielen Informationen über alles, was Besucher in der für sie fremden Halbstadt wissen müssen? Denn Stadtpläne von West-Berlin gibt es im Osten nicht. Die Redaktion beginnt sofort mit der Produktion einer achtseitigen Sonderausgabe mit Stadt- und U-Bahn-Plan, Adressen von Theatern, Museen, Gedenkstätten und anderen Sehenswürdigkeiten. Innerhalb kürzester Zeit werden davon eine Million Exemplare gedruckt und kostenlos verteilt.

In die Abteilungsleiterkonferenz des SFB gehen Helmut Lehnert und Thomas Diekmann gemeinsam. Sie brauchen die Unterstützung ihrer Vorgesetzten, sonst können sie das "Konzert für Berlin" gleich abschreiben. Doch bisher haben sie nur Zusagen von deutschen Künstlern. Können sie damit die Senderleitung überzeugen? Die Redakteure greifen zu einem kleinen Trick: Sie seien an Bruce Springsteen, U2, Sting und Madonna dran. Das ist nicht falsch – alle diese Superstars haben Diekmanns Kollegen über deren Managements kontaktiert. Dass es noch keine Zusage gibt, verschweigen sie.

Das Projekt wird genehmigt. Ein Festival wie dieses innerhalb von zwei Tagen zu organisieren, hat vorher wohl noch niemand versucht. Den ganzen Freitagnachmittag, während Hunderttausende DDR-Bürger mit 100 DM Begrüßungsgeld die bis dahin unbekannte Glitzerwelt des Kurfürstendamms erkunden, telefoniert Diekmann um die halbe Welt. Er bekommt die Zusage von Udo Lindenberg. Ohne seinen "Sonderzug nach Pankow" wäre ein Konzert zum Mauerfall tatsächlich unvollständig. Doch Lindenberg geht es gesundheitlich nicht gut, er hat im Moment auch keine richtige Band. Die "Toten Hosen" kommen, auch Nina Hagen.

Noch aber fehlt der internationale Star. Melissa Etheridge sagt zu, aber sie ist nicht so bekannt, dass ihr Name ganz nach vorne gestellt werden kann. In Frage kommt Joe Cocker, der am Donnerstagabend in Paris ein Konzert gegeben hat, am Freitagabend in Hamburg auftritt und am Sonntagabend in Arhus. Sein Manager ist Michael Lang, der 20 Jahre zuvor das legendäre Open-Air in Woodstock organisiert hat. Doch zaubern kann auch er nicht.

10. November 1989, 18 Uhr

Ganz andere Sorgen hat Wolfgang Koch. Gleich hat das "Sündikat" einen regulären Auftritt im Jugendclub Marzahn – aber wird überhaupt jemand kommen? Der Kabarettchef macht sich Notizen, für den Fall, dass sich ein paar Zuschauer in den Osten Berlins verirren sollten. Klar ist: Mit ihren Nummern über die DDR werden sie jetzt kaum mehr Lacher ernten.

Doch statt vor leerem Saal tritt das "Sündikat" wenig später vor restlos gefüllten Reihen auf. Mit zahllosen Improvisationen rettet sich die Truppe über die Zeit, und das Publikum dankt die spontanen Witze über die Folgen der Reisefreiheit mit tobendem Applaus. Zum Schluss erlaubt sich Koch eine Frage an das Publikum: "Warum seid ihr eigentlich hier und nicht drüben, in West-Berlin?" Die Antwort ist so entwaffnend wie verblüffend: "Wir hatten doch Karten!"

Weniger Glück hat Jutta Limbach. Die Justizsenatorin hat für ihren Mann Peter und sich Premierentickets für die Deutsche Oper am Sonnabend gesichert; auf dem Spielplan steht José Limóns Ballett "There is a Time". Doch Peter Limbach arbeitet im Lagezentrum des Bundesinnenministeriums in Bonn; dort kann er nach der Öffnung der Mauer und der innerdeutschen Grenze nicht fort: "Die Bundesrepublik braucht mich", sagt er seiner Frau nur halb ironisch per Telefon. Jutta Limbach notiert in ihr Tagebuch neben den eingeklebten Terminplan für Samstag mit dem Eintrag 19 Uhr Deutsche Oper: "Wieder nix."

Während ganz Berlin feiert, bekommt Klaus-Michael von Keussler vom Mauerfall nichts mit. Der Jurist und Rechnungsprüfer ist im Einsatz für die Vereinten Nationen, ausgerechnet in Äthiopien. Deutsches Fernsehen gibt es hier nicht, ebenso wenig eine stabile Telefonverbindung nach Europa.

11. November 1989, 6.30 Uhr

Am Sonnabendmorgen ist er gerade im Bad seines Hotelzimmers, als er über seinen Weltempfänger BBC World hört. Zuerst nebenbei, dann mit wachsender Aufmerksamkeit hört er zu. Offenbar wird ein älteres Hörspiel wiederholt, in dem es um den Abriss der Berliner Mauer geht, noch dazu in der Bernauer Straße. Für Keussler ist das ein ganz besonderer Ort – Anfang der sechziger Jahre hat der damalige Jurastudent genau hier an mehreren Tunneln unter der Straße mit gegraben. Er war Fluchthelfer damals, hat geholfen, einige Dutzend Menschen in den Westen zu holen.

"Ein toller Einfall der BBC", denkt sich Keussler. Ein als britischer Reporter auftretender Sprecher schildert gekonnt erregt, wie im grellen Scheinwerferlicht der Arm eines Baggers über die Mauer greift und das erste vier Meter breite und 3,60 Meter hohe Mauersegment herausbricht. Dann hört der Rechnungsprüfer in Äthiopien aus dem Radio eine johlende Menschenmenge. Sie feuert die Grenzer begeistert an: "Hau ruck! Hau ruck!" und "Schneller, schneller, schneller!". Andere skandieren: "Zugabe! Zugabe!"

Die Hörspiel-Produzenten haben offenbar sogar einen echten Berliner ins Studio geholt – als Arbeiter vom "VEB Baureparaturen Prenzlauer Berg" kommt er zu Wort: "Mir ham'se aus dem Bette jeholt – ,Mauer abreißen!!', ham'se jesagt!" Sofort muss Keussler an das legendäre Hörspiel "Krieg der Welten" von Orson Welles denken, das CBS 1938 in den USA ausgestrahlt hatte. Wegen der realistischen Inszenierung einer Landung von Marsmännchen war es bei den Hörern zu Panik gekommen. Überall in New York verließen Menschen ihre Häuser, Tausende riefen die Polizei an.

Keussler geht zum Frühstück mit seinen deutschen Kollegen, erzählt von seinem Erlebnis. Schnell ist sich das kleine Team einig: "Ja, die Angloamerikaner, die verstehen was von realitätsnahen Hörspielen." Dann fahren die Rechnungsprüfer zur Arbeit. Es ist der letzte Tag ihres Einsatzes, und einige Aktenberge sind noch durchzusehen. Plötzlich kommen ihnen mehrere Äthiopier entgegen, überreichen Blumensträuße und rufen "Congratulations! Congratulations!"

Erst jetzt begreift Klaus-Michael von Keussler, dass er eine echte Reportage gehört hat: An der Bernauer Straße fällt tatsächlich gerade die Mauer. Und er, der ehemalige Fluchthelfer, der mehr als einmal sein Leben riskiert hat, sitzt – in Äthiopien! Natürlich macht er sich sofort auf nach Deutschland. Über Beirut nach Frankfurt, so schnell wie möglich.

11. November 1989, 12 Uhr

In der Redaktion der Morgenpost bekommt Kulturchef Dieter Strunz einen seltsamen Anruf. Am Empfang stehe "ein Herr Rostropowitsch". Ob sich Strunz mal um ihn kümmern könne? Rostropowitsch? "Das kann ja wohl nicht wahr sein", denkt Dieter Strunz. Er eilt in die Halle, und tatsächlich steht, gleich hinter den Drehtüren, ein kleiner Mann mit hoher Stirn, hellen Augen und randloser Brille. Kein Mantel, nur sein Cello im Arm. Kein Zweifel: Es ist Mstislaw Rostropowitsch, einer der berühmtesten Virtuosen der Welt. Der Exilrusse, der einst vor dem Stalinismus in seinem Land geflüchtet ist, will nur eines: "Ich werde ein Konzert an der Mauer geben." Wann? "Jetzt!" Wo? "Gleich hier!" Nach kurzem Aufwärmen in der Chefredaktion will Rostropowitsch los, zur Mauer. Er will Bach spielen – für die Opfer der Mauer.

Vom Axel Springer Haus setzt sich eine kleine Kolonne in Bewegung, vielleicht zehn, zwölf Leute. Rostropowitsch findet eine Stelle an der Mauer, setzt sich auf einen mitgebrachten Stuhl, nimmt sein Cello und spielt. Drei Stücke von Bach. "Mit klammen Fingern und heißem Herzen", denkt Strunz. Eine knappe halbe Stunde dauert das Solo an der Mauer. Es ist der Höhepunkt im Leben eines Künstlers, der die berühmtesten Konzertsäle der Welt zum Jubeln gebracht hat.

Auch Thomas Diekmann hat das Programm für "sein" Konzert beisammen. Joe Cocker kommt, dank der Unterstützung einer Supermarktkette. Deren eigentlich für eine Videoleinwand gestiftetes Geld fließt in die Charter für ein Flugzeug, mit dem der Superstar und seine Band aus Dänemark am Sonntagmittag nach Berlin kommen werden.

Endlich kommt Klaus-Michael von Keussler auf dem Frankfurter Flughafen an, am Sonntagmorgen um 6.15 Uhr. Seine Frau und die Töchter holen ihn ab. Ohne jede Begrüßung, dafür mit Tränen in den Augen ruft er seiner Familie über die Zollsperre zu: "Mensch, stellt Euch vor, die reißen in Berlin die Mauer ab…!" Doch dauert es noch fünf Tage, bis es der ehemalige Fluchthelfer schafft, nach Berlin zu kommen. Endlich sitzt er auf "dieser verfluchten Mauer".

Auf den Straßen der Stadt wird am Sonntagmorgen ausdauernd weiter gefeiert. Die Philharmoniker geben am Vormittag des 12. November ein Sonderkonzert, nur für DDR-Bürger. Neue Grenzübergänge entstehen so schnell, dass selbst die Redakteure der Morgenpost mit ihren Berichten kaum hinterher kommen. Auch der Potsdamer Platz ist wieder zugänglich, nach 28 Jahren im Todesstreifen. Die Völker der Welt schauen auf diese Stadt und freuen sich über das völlig friedliche Ende der mörderischen Grenze.

Das "Konzert für Berlin" soll am Sonntagmittag gegen 13 Uhr beginnen, der Auftritt von Joe Cocker ist für 15 Uhr geplant. Nun muss improvisiert werden. Als die Chartermaschine ausnahmsweise auf dem Flughafen Tempelhof landen darf, holt ihn der "SF-Beat"-Moderator Carsten Mierke mit seinem zehn Jahren alten Volvo ab – dem größten Auto, das Diekmann und Kollegen auf die Schnelle auftreiben konnten. Der Star hat genaue Vorstellung: Er will nach seinem Auftritt unbedingt noch einen Abstecher an die Mauer machen, bevor er nach Arhus zurückfliegt. Doch erst einmal singt er.

Der Sonntag ist Jutta Limbach heilig – es ist ihr Familientag. Nachdem schon ihr Mann nicht aus Bonn kommen kann, geht sie mit ihrem Sohn Daniel auf einen längeren Spaziergang. Nicht ganz zufällig führt sie ihr Weg von einem Gericht zum nächsten, denn die Justizsenatorin will sich mit eigenen Augen überzeugen, dass alles rund läuft. Sie wird nicht enttäuscht: Wo immer sie auftaucht, erlebt sie freundliche Stimmung und Dankbarkeit. Auch in der U-Bahn – die Senatorin hat kein Auto – spürt sie die gleiche Euphorie, die sich schon seit der Senatssondersitzung am Donnerstagabend hält.

12. November 1989, 13 Uhr

Zur gleichen Zeit ist die Deutschlandhalle, die 12.000 Zuhörer fasst, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Programm hat die Kölner Rockband Rausch eröffnet. Viele Künstler beginnen ihre Auftritte mit kurzen Ansprachen, denn alle spüren: Dieses Konzert ist etwas Einmaliges. Udo Lindenberg textet seinen bekanntesten Song spontan um und singt über den "Sonderzug aus Pankow". Das Publikum jubelt.

Nun ist Joe Cocker an der Reihe. Er präsentiert natürlich seinen größten Hit, das Beatles-Lied "With a little help from my friends" – mit einem einzigartigen Chor: Heinz-Rudolf Kunze und Udo Lindenberg, Konstantin Wecker und Ulla Meinecke stehen mit ihm auf der Bühne. Danach verlässt der Weltstar die Deutschlandhalle – er will zur Mauer und zurück zum Flugzeug. Aber West-Berlins Straßen sind verstopft von Trabbis, von Ost-Berlinern, die ihr Ziel suchen. Doch an diesem Tag ist fast alles möglich: Hilfsbereite Polizisten bilden eine Eskorte für Cocker. Mit Motorradfahrern und Blaulicht wird er zur Mauer gebracht und weiter zum Flugplatz.

Noch höher schlagen die Emotionen, als Moderator Steffen Simon auf die Bühne tritt und bekannt gibt, dass die DDR-Regierung offiziell den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze aufhebt. Unfassbarer Jubel lässt die Halle beben. Dann geht das Konzert weiter – bis kurz vor Mitternacht. Um fünf Minuten vor zwölf betritt Nena nur mit ihrer Gitarre die Bühne und stimmt ihren neuen Song an. Ein Liebeslied, doch sein Refrain passt perfekt auf die verrücktesten, schönsten vier Tage der Berliner Geschichte:

Wunder geschehen

ich hab's gesehen

es gibt so vieles

was wir nicht verstehen

Wunder geschehen

ich war dabei

wir dürfen nicht nur

an das glauben

was wir sehen

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