70 Jahre "Unternehmen Barbarossa": Der längste Tag – das Protokoll des Überfalls
Berlin, 0.00 Uhr – Im Salon der Reichskanzlei drehen Adolf Hitler und Joseph Goebbels ruhelos eine Runde nach der anderen. Der Diktator und sein Propagandist erwarten den Beginn der Kämpfe an der Ostfront und hoffen, dass die Überraschung gelingt.
Wolodymyr-Wolynskyj, zur selben Zeit (ein Uhr Moskauer Zeit) – Der deutsche Soldat Alfred Liskow desertiert und unterrichtet einen sowjetischen Major, dass die Wehrmacht bei Morgengrauen die Grenze überschreiten will. Liskow wird als "Desinformant" abgetan und später erschossen.
Moskau, ein halbe Stunde später – Im Kriegsministerium erfahren Georgi Schukow und Semjon Timoschenko, dass deutsche Deserteure sowjetische Vorposten gewarnt haben sollen. Die beiden Marschälle der Sowjetunion rufen Josef Stalin an. Doch der KP-Chef glaubt ihnen nicht und geht zu Bett.
Moskau, 60 Minuten später – Schukow und Timoschenko geben einen Eilbefehl an die Kommandeure der grenznah stationierten sowjetischen Armeen heraus. Darin heißt es: "Im Laufe des 22. Juni 1941 ist ein Überraschungsangriff der Deutschen möglich."
Berlin, 2.15 Uhr – Goebbels verlässt die Reichskanzlei und geht die kaum 200 Meter hinüber in sein Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Dort notiert er in sein Tagebuch: "Der Führer ist sehr ernst. Er will noch ein paar Stunden schlafen. Das ist auch das Beste, was er jetzt tun kann."
Moskau, zur selben Zeit (3.15 Uhr Ortszeit) – Der deutsche Botschafter in der Sowjetunion, Friedrich Werner von der Schulenburg, bittet telefonisch um ein sofortiges Treffen mit Außenminister Wjatscheslaw Molotow. Er bekommt einen Termin um fünf Uhr morgens.
Terespol, 3.00 Uhr Berliner Zeit – Genau 1040 Kilometer Weg liegen vor der deutschen 4. Panzerdivision. Das Ziel heißt Moskau, die Einnahme der sowjetischen Hauptstadt ist für spätestens Ende September geplant.
Berlin, zur selben Zeit – Der Korrespondent des US-Radiosenders CBS Howard K. Smith wird von der Presseabteilung des Auswärtigen Amts aus dem Bett geklingelt und für fünf Uhr zu einer Pressekonferenz eingeladen.
Entlang der Ostfront, 3.05 Uhr Berliner Zeit – Deutsche Jäger, Bomber und Stukas überfliegen in Maximalhöhe die deutsch-sowjetische Grenze und attackieren 31 Flugplätze der Roten Armee.
Moskau, zwei Minuten später (4.07 Uhr Ortszeit) – Von der sowjetischen Schwarzmeerflotte kommt die erste Information über deutsche Angriffe.
Bei Przemysl, drei Minuten später – Mit der ersten Dämmerung beginnen im äußersten Süden des deutsch besetzten Polen Geschütze der Wehrmacht mit einem fünfminütigen Trommelfeuer auf vorgezogene sowjetische Stellungen auf der anderen Seite des Flusses San.
Brest, 3.15 Uhr Berliner Zeit – Soldaten der 45. Infanteriedivision treten an, um die hundert Jahre alten, aber kürzlich modernisierten Stellungen der Festung Brest im Handstreich zu nehmen.
Am Fluss Bug, 13 Minuten später – Deutsche Stoßtrupps erobern eine strategisch wichtige Brücke über den Grenzfluss bei Brest. Hauptmann Ludwig Hauswedell notiert: "Leider einige Kurzschüsse, die bei der 3.?Kompanie bedauerliche Ausfälle bewirken. 30 Mann mit einem Mal weg."
Berlin, 3.30 Uhr – Joseph Goebbels notiert: "Nun donnern die Geschütze. Gott segne unsere Waffen! Draußen auf dem Wilhelmplatz ist alles still und leer. Berlin schläft, das Reich schläft. Ich gehe ruhelos im Zimmer auf und ab. Der Atem der Geschichte ist hörbar."
Moskau, zehn Minuten später (4.40 Uhr Ortszeit) – Georgi Schukow ruft Stalin an, doch der Diktator glaubt, es müsse sich um eine Provokation einzelner deutscher Generäle handeln. Trotzdem bestellt er das Politbüro und seine obersten Militärs in den Kreml ein.
Moskau, 20 Minuten später – Schukow und Timoschenko treffen im Kreml ein. Stalin erwartet sie "sehr bleich" und "fassungslos". Er murmelt starrköpfig: "Hitler weiß sicher nichts davon."
Berlin, 3.55 Uhr – Im Auswärtigen Amt wartet Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop auf den sowjetischen Botschafter Wladimir Dekanosow. Auf die Minute pünktlich um vier Uhr morgens betritt der Diplomat das Büro und hebt an, im Namen seiner Regierung um "Aufklärung in einigen Fragen" zu bitten. Weiter kommt er nicht, denn Ribbentrop unterbricht ihn: "Die feindselige Haltung der Sowjetunion gegenüber Deutschland und die schwere Bedrohung, die das Reich in den russischen Truppenkonzentrationen an der deutschen Ostgrenze erblickt, hat das Reich gezwungen, militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen." Dem sowjetischen Botschafter bleibt lediglich zu antworten, dass die deutsche Regierung eine "vollkommen abwegige Auffassung" vertrete. Er verlässt das Büro, ohne Ribbentrop die Hand zu geben.
Moskau, ein halbe Stunde später – Botschafter Schulenburg trifft im Kreml ein und steht wenig später Außenminister Molotow gegenüber. Er verliest eine Erklärung, der zufolge "Russland zusammen mit England den Plan eines Angriffs gegen das Reich gefasst" habe. Nun habe der "Führer befohlen, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten". Molotow reagiert ungläubig, obwohl er die Nachrichten vom Angriff kennt: "Das kann doch nicht sein, nennen Sie die Forderungen Ihrer Regierung!" Schulenburg weist darauf hin, dass der Krieg bereits begonnen habe. Molotow gibt zurück: "Das ist ein großes Unglück, für uns, auch für Sie!" Die beiden verabschieden sich mit einem Händedruck.
Berlin, 5.00 Uhr – Im Auswärtigen Amt beginnt Joachim von Ribbentrop seine Ansprache vor internationalen Korrespondenten. Howard?K. Smith empfindet den Vortrag von Vorwürfen, die Sowjetunion habe einen Angriff auf das Dritte Reich geplant, als "Schmierenkomödie".
Berlin, eine halbe Stunde später – Goebbels verliest über alle Rundfunksender die "Proklamation des Führers an das deutsche Volk". Sie beginnt mit den Worten: "Von schweren Sorgen bedrückt, zu monatelangem Schweigen verurteilt, ist nun die Stunde gekommen, in der ich endlich offen sprechen kann" und endet: "Ich habe mich deshalb heute entschlossen, das Schicksal und die Zukunft des Deutschen Reiches und unseres Volkes wieder in die Hand unserer Soldaten zu legen."
Entlang der Ostfront, 6.00 Uhr Berliner Zeit – Deutsche Jäger und Bomber zerstören in den ersten gut drei Stunden 668 sowjetische Flugzeuge am Boden und weitere über 200 bei Luftkämpfen; zugleich gehen nur 18 deutsche Maschinen verloren.
Moskau, zur selben Zeit (7.00 Uhr Ortszeit) – Georgi Dimitrow, der Chef der Kommunistischen Internationale, wird in den Kreml bestellt. Stalin sagt zu ihm: "Sie haben uns angegriffen, ohne irgendwelche Forderungen zu stellen, niederträchtig überfallen, wie Räuber."
Moskau, 15 Minuten später – Stalin unterzeichnet den Befehl, mit allen Mitteln gegen die Wehrmacht zuzuschlagen.
Berlin, 6.30 Uhr – Die Exilrussin Marie "Missie" Wassiltschikow notiert in ihr Tagebuch: "Das deutsche Heer ist auf der ganzen Länge der Ostgrenze zur Offensive übergegangen. Wir haben es kommen sehen. Dennoch waren wir wie vom Donner gerührt."
Östlich von Terespol, 8.00 Uhr Berliner Zeit – Nach wenigen Stunden sind die Kettenfahrzeuge der 4. Panzerdivision Dutzende Kilometer vorgestoßen. Das Kriegstagebuch vermerkt "wenig Feindwiderstand".
Berlin, zur selben Zeit – Im Allgemeinen Heeresamt am Landwehrkanal sagt der Hitler gegenüber äußerst skeptische General Friedrich Olbricht beklommen: "Unser Heer ist nur ein Windhauch in der russischen Steppe."
New York, eine halbe Stunde später (2.30 Uhr Ortszeit) – Die Setzer der "New York Times" tauschen die Titelseite ihrer Zeitung für die "Late City Edition" aus. Die neue Schlagzeile lautet: "Hitler beginnt Krieg gegen Russland".
Moskau, 90 Minuten später (12 Uhr Ortszeit) – Wjatscheslaw Molotow hält über alle sowjetischen Sender eine Ansprache und geißelt den Überfall. Stalins zweiter Mann sagt aber auch: "Dieser Krieg ist uns nicht vom deutschen Volk, sondern von der blutrünstigen faschistischen Führung aufgezwungen."
London, zur selben Zeit (10 Uhr Ortszeit) – Der sowjetische Botschafter am britischen Hof, Iwan Maiski, sagt einen Gesprächstermin mit Außenminister Anthony Eden ab. Er weiß noch nicht, wie sich Stalin verhalten wird.
Brest, eine Stunde später – General Fritz Schlieper, Befehlshaber de 45. Infanteriedivision, befiehlt, "nichts mehr in die Zitadelle zu stecken". Die Verluste sind zu hoch.
Dresden, eine halbe Stunde später (12.30 Uhr Ortszeit) – Der als Jude verfolgte Romanist Victor Klemperer hört die Wiederholung der Hitler-Proklamation. Alle großen Zeitungen bringen Extrablätter mit dem Text heraus.
Washington D.C., 90 Minuten später (8.00 Uhr Ortszeit) – Das State Department gibt inoffiziell bekannt, der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion sei der Beweis dafür, dass Nazi-Deutschland nach der Weltherrschaft strebe. Gewalt sei sein bevorzugtes Mittel. Offiziell hält sich die US-Regierung zurück.
Berlin, zur selben Zeit – Goebbels notiert: "Im Volk eine leicht deprimierte Stimmung. Das Volk will den Frieden, zwar nicht den verlorenen, aber jeder neu aufgemachte Kriegsschauplatz bereitet ihm Sorgen und Kummer."
Entlang der Ostfront, 15 Uhr Berliner Zeit – Die Wehrmacht erreicht vorzeitig ihre Tagesziele und rückt oft weiter vor. Zu den Ausnahmen zählt die Festung Brest.
Berlin, eine Stunde später – Im Olympiastadion wird das Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft angepfiffen. Im Finale stehen sich Rapid Wien und Schalke 04 gegenüber. 90.000 Fußball-Fans verfolgen ein spannendes Spiel. Rapid Wien gewinnt 4:3.
Westlich von Brest, 18 Uhr Berliner Zeit – Generalfeldmarschall Günther von Kluge, Oberbefehlshaber der 4. Armee, befiehlt, "dass kein unnützes Blut im Kampf um die Zitadelle vergossen werden soll, da die Kämpfe nur noch örtliche Bedeutung haben. Der Feind soll ausgehungert werden."
Berlin, 18.30 Uhr – In den Theatern und Kinos der Reichshauptstadt beginnen die üblichen Abendveranstaltungen. Am meisten Zuspruch finden Komödien und Operetten, außerdem der propagandistisch gefärbte Film "Carl Peters". Hans Albers spielt die Titelrolle, einen Kolonialabenteurer.
Östlich von Brest, am Abend – Die 45. Infanteriedivision hat bei den Kämpfen um die Festung von Brest 311 Gefallene zu beklagen.
Dresden, zur gleichen Zeit – Victor Klemperer sieht in der Innenstadt vor allem vergnügte Gesichter. Es wird getanzt und gefeiert. "Eine neue Gaudi, eine Aussicht auf neue Sensationen ist der russische Krieg für die Leute."
London, 21 Uhr Ortszeit – Winston Churchill spricht über BBC. "Jedermann, der Hitler bekämpft, bekommt unsere Hilfe, und jedermann, der mit Hitler kämpft, ist unser Feind", sagt der Premierminister. "Wir werden den blutrünstigen Straßenjungen Hitler und seine ganze Nazi-Bande zu Lande bekämpfen, zu Wasser und in der Luft, so lange, bis wir mit Gottes Hilfe die Welt gereinigt haben werden von seinem Schatten."
Washington D.C., 16 Uhr Ortszeit – Auch nach Churchills Rede gibt es zunächst keine Reaktion aus dem Weißen Haus. Allerdings fordern prominente Politiker der Demokratischen Partei mehr Unterstützung für Großbritannien.
Berlin, gegen Mitternacht – Joseph Goebbels zieht eine erste Bilanz: "Alle Tagesziele erreicht. Bisher keine Komplikationen. Wir können sehr beruhigt sein. Das Sowjetreich wird wie Zunder auseinanderbrechen."
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