Antisemitismus: Die sechs Tage des November-Pogroms 1938
Es war eine Zäsur: Vor 75 Jahren, in der zweiten Novemberwoche 1938, fand in Deutschland das schlimmste Pogrom in Mitteleuropa seit mehreren hundert Jahren statt. Hitler-Anhänger ließen ihrem Antisemitismus freien Lauf, setzten Synagogen in Brand, demütigten Zehntausende Juden, brachten mehrere hundert um. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager gebracht und oft grausam misshandelt.
Vor allem aber plünderten unzählige Deutsche fremden Besitz, vor allem am 10. November 1938. Schmuck und Pelze, aber ebenso Bargeld und sogar Schreibwaren oder Tabak wurden gestohlen. Das Pogrom war weit mehr als eine "Reichskristallnacht", als die ein NS-Funktionär das November-Pogrom im Juni 1939 bezeichnet hat, wohl in Anlehnung an den Berliner Volksmund.
Im Rückblick erweisen sich die sechs Tage vor einem Dreivierteljahrhundert als der Wendepunkt in der antisemitischen Politik Hitlers und seines Dritten Reiches. Fortan deutete alles auf die physische Ausrottung von Millionen Menschen aus vermeintlich "rassischen" Gründen. Das Novemberpogrom, das die "Welt" exemplarisch rekonstruiert, war der Wendepunkt hin zum Holocaust.
Paris, 09.35 Uhr Ortszeit: In der deutschen Botschaft an der Rue de Lille nahe dem Seine-Ufer schießt der 17-jährige Herschel Grynszpan fünfmal auf den Legationssekretär Ernst vom Rath. Zwei Kugeln treffen den 29 Jahre alten Nachwuchsdiplomaten. Und verletzen ihn schwer.
Berlin, 11.00 Uhr: Im Auswärtigen Amt an der Wilhelmstraße trifft nach gerade einmal 20 Minuten zuerst telefonisch, dann als Eiltelegramm die Nachricht über das Attentat ein. Umgehend wird der Stab von Reichskanzler Adolf Hitler benachrichtigt, der sich in Weimar bei einem Gautag der NSDAP befindet.
Paris, 10.30 bis 12.00 Uhr: Ernst vom Rath wird operiert. Ihm muss die zerfetzte Milz entfernt werden. Der Eingriff verläuft gut.
München, 15 Uhr: Hitler weist seinen Begleitarzt Karl Brandt und den Münchner Unfallchirurgen Georg Magnus an, umgehend nach Paris zu reisen.
Köln, 17.00 Uhr: Die Abendausgabe des NSDAP-Blattes "Westdeutscher Beobachter" erscheint mit einer relativ sachlichen Meldung über die Ereignisse in Paris auf der zweiten Seite. Der Attentäter wird als Pole und "Geistesgestörter" bezeichnet. Das Wort "Jude" fehlt.
Kassel, 19.00 Uhr: In Kassel versammeln sich NSDAP-Anhänger vor der Synagoge. Während Hunderte Menschen zusehen, verwüsten etwa 30 Männer in Zivil, aber "alle mit den gleichen Stiefeln", die Innenausstattung der Synagoge, das nahe gelegene Café Heinemann und etwa 20 Geschäfte. Ähnliche Übergriffe geschehen in anderen Orten des NS-Gaus Kurhessen, zum Beispiel in Bebra und Baumbach, wo "fast sämtliche Fensterscheiben der jüdischen Wohnhäuser zertrümmert" werden, wie die Gestapo mitteilt.
Berlin, 20.37 Uhr: Das Deutsche Nachrichtenbüro gibt eine Anweisung an alle Redaktionen heraus: "Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form über das Attentat auf den Legationssekretär in der deutschen Botschaft in Paris berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen." Auch die Linie der Berichterstattung ist gleich festgelegt: "In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben muss, und zwar auch für die ausländischen Juden in Deutschland."
Berlin, 21.30 Uhr: Das Reichspropagandaministerium verschickt an alle Zeitungen eine vermeintliche "Hintergrundgeschichte" mit dem Titel "Jüdische Mordbanditen". Für die Morgenausgaben rücken Setzer in einigen Druckhäusern diesen Artikel noch in ihre Blätter.
Rotenburg an der Fulda, 02.15 Uhr: Der NSDAP-Kreisleiter von Bebra trifft sich mit dem örtlichen SA-Chef im Parteilokal. Er ordnet an, dass jetzt "zurückgeschlagen" werden. Der SA-Funktionär benachrichtigt seine Männer, die bis zum Morgengrauen jüdische Geschäfte verwüsten.
Paris, 05.00 Uhr: Karl Brandt und Georg Magnus treffen in der französischen Hauptstadt ein.
Berlin, 06.30 Uhr: Die Hauptstadtausgabe des "Völkischen Beobachters" widmet die gesamte erste Seite dem Attentat von Paris. Herschel Grynszpan wird abwechselnd als "Mordbube" und "Mörder" oder als Werkzeug "jüdischer Menschenhändler" dargestellt. Im Leitartikel werden Deutschlands Juden vage Konsequenzen angedroht: "Es ist klar, dass das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird."
Paris, 10.00 Uhr: Karl Brandt und Georg Magnus untersuchen den Verletzten vom Rath, dem es schon besser geht. Sie stellen fest, dass er zusätzlich zu seinen Schusswunden an einer schweren Darmtuberkulose leidet. Brandt telefoniert mit Hitler in München; über den Inhalt des Gespräches ist nichts bekannt.
Berlin, vormittags: Die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich spürt eine seltsame Stimmung in der Reichshauptstadt: "Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäusern wird der Fall Grynszpan laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine drückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters." Die verbliebenen jüdischen Geschäfte am Kurfürstendamm, auf dem Tauentzien und der Leipziger Straße sind "auffallend leer", fällt der NS-Gegnerin auf: "Man wagt sich mal wieder nicht ... Man hat Angst, sich unbeliebt zu machen. Zu oft stand im ,Stürmer' zu lesen: ,Kauft nicht bei Juden!'"
München, mittags: Joseph Goebbels arbeitet mit seinem Stab an Vorgaben für die Berichterstattung des nächsten Tages. Die Grundlinie soll beibehalten werden: Herschel Grynszpan wird als Killer im Auftrag einer "jüdischen Verschwörung" dargestellt.
Berlin, nachmittags: Der Korrespondent der Londoner "Times" in der Reichshauptstadt berichtet an seine Redaktion: "Die noch im Dritten Reich verbliebenen 400.000 Juden erwarten heute Nacht in Furcht und Angst einen erneuten Angriff auf ihre Rasse, der, sofern der Ton der amtlich gelenkten Presse als Anzeichen gewertet werden kann, an Gewalttätigkeit und Rohheit jeden während der vergangenen fünf Jahre stattgefundenen übertreffen wird."
Paris, nachmittags: Ernst vom Rath, den Hitler über mehrere Rangstufen vom Legationsrat zum Gesandtschaftsrat 1. Klasse befördert hat, geht es schlechter. Karl Brandt und Georg Magnus schreiben in ihrem zweiten ärztlichen Bulletin: "Es finden sich Anzeichen einer beginnenden Kreislaufschwäche." Auch eine Bluttransfusion bessert die Situation nicht.
Felsberg bei Kassel, 18.00 Uhr: In der hessischen Kleinstadt demolieren SA-Männer aus dem Nachbarort die kleine Synagoge, stürmen die Wohnungen von Juden und demütigen sie.
Magdeburg, am frühen Abend: Auch im Nachbargau von Hessen kommt es zu Ausschreitungen gegen Juden, die von örtlichen NSDAP-Funktionären angeordnet werden.
Felsberg, kurz nach 19.00 Uhr: Ein Mob aus Hitlerjugend, SA und ganz normalen Einwohnern stürmt das Haus von Robert Weinstein. Der schwerkranke 55-Jährige wird auf die Straße gezerrt und herumgestoßen. Er erliegt einem Herzanfall.
München, 20.00 Uhr: Im Bürgerbräukeller beginnt Adolf Hitler seine alljährliche Rede vor "alten Kämpfern" der NSDAP zur Erinnerung an den gescheiterten Putsch 1923. In seiner Standardrede hetzt er gegen Großbritannien und speziell seinen Todfeind Winston Churchill, geht aber mit keinem Wort auf den Anschlag von Paris ein und erwähnt den Namen Ernst vom Rath nicht. Noch hat er nicht festgelegt, wie die NSDAP reagieren soll.
Berlin, 06.30 Uhr: Die Morgenzeitungen in der Reichshauptstadt erwähnen die antisemitischen Ausschreitungen der vorangegangenen Nächte nicht oder nur ganz am Rande. Stattdessen dominieren Hassartikel über die angebliche jüdische Verschwörung, die Herschel Grynszpan bezahlt habe. Die massive Unlogik in den Tiraden stören offenbar weder die Redakteure noch die Leser.
Paris, vormittags: Zum ersten Mal dürfen der Vater und ein Bruder des angeschossenen Ernst vom Rath in sein Krankenzimmer. Sprechen mit ihm können sie nicht, aus "medizinischen Gründen". Ohnehin ist ständig Personal des Krankenhauses und der Botschaft im Raum. Der Zustand des Patienten verschlechtert sich.
München, 12.00 Uhr: Der traditionelle Marsch der NSDAP-Führung zur Feldherrenhalle findet wie jedes Jahr statt. An der Spitze geht der Nürnberger Gauleiter und Radikalantisemit Julius Streicher, der das Hetzblatt "Der Stürmer" herausgibt. Ihm folgen Rudolf Hess, Hermann Göring, Hitler selbst und die Führung der Wehrmacht: Admiral Erich Raeder sowie die Generäle Walter von Brauchitsch, Wilhelm Keitel und Erhard Milch.
Paris, mittags: Ernst vom Rath fällt ins Koma. Den Ärzten ist klar, dass er den Tag nicht überleben wird.
München, 14.00 Uhr: Der große Fahnenappell der NSDAP auf dem Königsplatz endet, ohne dass die Ereignisse in Paris erwähnt worden wären.
Dessau, 15.00 Uhr: Nachdem die örtliche Parteizeitung die Namen und Adressen der 204 jüdischen Familien der Stadt veröffentlicht hat, überfällt ein tausendköpfiger Mob die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus. Beide werden verwüstet, danach ziehen die Randalierer weiter zu den Wohnungen der Juden, demolieren und plündern hier. Auch den jüdischen Friedhof und die dortige Kapelle zerstören sie.
Paris, 16.30 Uhr: Ernst vom Rath stirbt. Die genaue Todesursache wird bei einer oberflächlichen Obduktion nicht festgestellt; auf dem Totenschein steht Kreislaufversagen als Folge einer Schussverletzung. Von seiner schweren, nicht behandelten Darminfektion, die ihn zusätzlich geschwächt hat, ist keine Rede.
Berlin, 17.45 Uhr: Eine Viertelstunde nach dem Tod des Diplomaten schickt Karl Brandt ein Vorrangtelegramm an die Reichskanzlei. Vermutlich ruft er auch in Hitlers Münchner Wohnung an. Jedenfalls diktiert der "Führer" umgehend ein Beileidstelegramm an die Eltern: "Herrn und Frau vom Rath, z. Z. Paris. Nehmen Sie zu dem schmerzlichen Verlust, der Sie durch den feigen Meuchelmord an Ihrem Sohn getroffen hat, meine aufrichtigste Teilnahme entgegen. Adolf Hitler."
München, 18.15 Uhr: Aus einer Meldung des Deutschen Nachrichtenbüros erfährt Joseph Goebbels in seinem Hotel, dass Ernst vom Rath gestorben ist. Er notiert in sein Tagebuch: "Nun ist es aber gar!"
Berlin, 18.30 Uhr: Eine gespannte Ruhe liegt über der Reichshauptstadt. Noch ist unklar, was die Nacht bringen wird.
München, 19.00 Uhr: Am Marienplatz beginnt der traditionelle "Kameradschaftsabend der "alten Kämpfer" des Putsches von 1923. Ehrengast ist Adolf Hitler. Goebbels spricht ihn auf den Tod des Diplomaten an und notiert darüber: "Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig." Hitler ergreift an diesem Abend nicht das Wort.
Chemnitz, bald nach 19.00 Uhr: In der sächsischen Stadt kommt zu einem spontanen Pogrom. Die Synagoge wird attackiert, SA-Leute zerschlagen die Schaufenster von jüdischen Geschäften.
München, 22.00 Uhr: Nachdem der NSDAP-Chef den Kameradschaftsabend verlassen hat und in seine Privatwohnung zurückgekehrt ist, hält Joseph Goebbels eine etwa 15-minütige Hetzrede. Er spricht davon, dass "Aktionen größten Stils mit vollkommen freier Hand für jedermann gegen Juden einzutreten haben", hält der Wiener SS-Chef Odilo Globocnik fest. In sein Tagebuch notiert Goebbels : "Ich rede kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln."
München, bald nach 23.00 Uhr: Der "Stoßtrupp Hitler", die Leibgarde des Parteichefs aus der Gründungszeit der NSDAP, ergreift die Initiative. Die etwa drei Dutzend "alten Kämpfer" ziehen als erste los, zur Synagoge "Ohel Jacob" in der Herzog-Rudolf-Straße, verwüsten die Einrichtung und stecken den Bau in Brand.
München, 23.15 Uhr: Die Polizei fragt bei Gestapo-Chef Reinhard Heydrich an, ob gegen die Aktionen von SA-Männern gegen Juden eingeschritten werden soll. Heydrich hat Goebbels' Rede verpasst und weiß nicht, was vor sich geht. Er wendet sich an SS-Chef Heinrich Himmler.
München, 23.30 Uhr: Himmler, als Chef der deutschen Polizei zuständig für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, kommt in Hitlers Wohnung, um Instruktionen zu bekommen. Wie sollen Polizei und Feuerwehr vorgehen? Die Ausschreitungen unterbinden, brennende Synagogen löschen? Oder den Trupps aus SA und anderen NS-Organisationen freien Lauf lassen? Hitler bestimmt, dass die Leitung der Aktion weiter bei den Gaupropagandaämter liegen soll, also bei Goebbels.
Berlin, 23.55 Uhr: Nach einem Telefonat mit Himmler gibt der stellvertretende Gestapo-Chef Heinrich Müller eine Weisung heraus: "Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen, stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können." Außerdem ordnet Müller an, die Festnahme von 20.000 bis 30.000 jüdischen Männern vorzubereiten: "Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden."
München, 23.59 Uhr: Die Feuerwehr registriert, dass es im Bekleidungsgeschäft Hans Weber brennt.
München, Mitternacht: Bei der traditionellen Vereidigung von SS-Rekruten auf dem Odeonsplatz spricht Hitler kurz, sagt aber zu den gerade beginnenden Ausschreitungen gegen Juden kein Wort.
Aachen, kurz nach Mitternacht: Ein Trupp SS-Leute steckt die Synagoge in Brand. Vorher ist ihr Befehlshaber noch auf dem Aachener Polizeipräsidium vorbei gegangen und hat die Aktion angekündigt.
Duisburg, 00.22 Uhr: Die Schutzpolizei in Duisburg erhält telefonisch die Weisung, gegen antijüdische Ausschreitungen nicht vorzugehen: "Die Aktionen sind im Gegenteil zu unterstützen."
Berlin, 00.30 Uhr: SA-Leute haben die Synagoge in der Oranienburger Straße gestürmt und stapeln brennbares Material auf, um sie in Brand zu setzen. Wilhelm Krützfeld, der Vorsteher des zuständigen Polizeireviers 16 am Hackeschen Markt, erfährt davon und geht sofort mit einigen seiner Beamten los. Weil der Bau denkmalgeschützt sei, so befiehlt er den überraschten SA-Leuten, dürfe er nicht in Brand gesteckt werden. Die bereits im Vestibül und im Trausaal lodernden Flammen lässt er löschen. Die SA-Männer ziehen konsterniert ab.
Berlin, kurz vor ein Uhr: SA-Leute stürmen die große Synagoge in der Fasanenstraße, schichten aus Bänken, Vorhängen und Büchern einen Scheiterhaufen auf und stecken ihn in Brand. Weil die Flammen zunächst nicht recht übergreifen wollen auf den riesigen Bau, richtet der Truppführer eine Brandwache besonderer Art ein: Ein Dutzend Uniformierter achtet darauf, dass das Feuer nicht ausgeht.
München, 01.00 Uhr: Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich formulieren gemeinsam ein Fernschreiben ("Streng geheim!") an alle Gestapo-Dienststellen. Es enthält klare Richtlinien: "Es dürfen nur solche Maßnahmen ergriffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist). Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen. In Geschäftsstraßen ist darauf zu achten, dass nichtjüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden. Ausländische Staatsangehörige dürfen – auch wenn sie Juden sind – nicht belästigt werden." Um 01.20 Uhr geht das Fernschreiben ab.
Göttingen, kurz nach 01.00 Uhr: Die Synagoge in der Maschstraße brennt aus.
Frankfurt/Main, 01.15 Uhr: Die Hauptsynagoge an der Börnestraße, 1933 in "Großer Wollgraben" umbenannt, wird gestürmt und bald in Brand gesetzt.
Lichtenfeld bei Coburg, 01.30 Uhr: NSDAP-Kreisleiter Lorenz Kraus bekommt telefonisch die Anweisung, gegen Juden vorzugehen. Er sammelt zwei Dutzend SA-Männer um sich und lässt sie die kleine Synagoge stürmen. Möbel und die Thorarollen werden aus den Fenstern geworfen. Angesteckt wird der Bau nicht, weil das für Nachbargebäude gefährlich wäre.
Aschaffenburg, kurz vor 02.00 Uhr: SS-Leute stecken die Synagoge an der Entengasse in Brand.
Berlin, gegen 02.00 Uhr: Ein Reporter der "New York Times" sieht, wie die Ausschreitungen von Synagogen auf jüdische Geschäfte in der Leipziger- und der Friedrichstraße übergreifen. An der Kreuzung stehen SS-Leute bereit, als sich ein aufgeputschter Mob aus SA, Hitler-Jugend und anderen NS-Anhängern nähert. Statt die Menge zu bremsen, setzen sich die jungen Männer in Zivil, aber mit den für NS-Gliederungen typischen hohen Schnürstiefeln, an die Spitze. Sie fahren auf Lastwagen zu den markierten jüdischen Geschäften, schlagen mit langen Metallstangen die Schaufenster ein und plündern die Auslagen.
Krefeld, kurz vor 03.00 Uhr: Die Synagoge an der Marktstraße wird in Brand gesetzt. Der Gemeindebeamte Leo Halperin ruft bei der Polizei an und bittet um Hilfe. Er bekommt als Antwort: "Da können wir nichts tun."
Berlin, gegen 03.00 Uhr: Der Schriftsteller Erich Kästner ist auf dem Tauentzien unterwegs. Er hört Glas klirren. Es klingt, als würden "Dutzende von Waggons voller Glas umgekippt". Kästner sieht, wie vor etwa jedem fünften Haus Männer stehen, die mächtig ausholen und mit langen Eisenstangen Schaufenster einschlagen. Ein ähnliches Bild auf dem Kurfürstendamm. Dem von den Nazis verfemten Autor fällt auf, dass jeder Mann ein festes Pensum von Häusern zu haben scheint, deren Schaufenster er zu zerstören hat. "Es klingt, als bestehe die ganze Stadt aus nichts wie krachenden Glas."
Bremen-Lesum, 03.30 Uhr: Telefonisch erfährt der Bürgermeister Fritz Köster, dass "Vergeltungsmaßnahmen für den Tod vom Rath" angeordnet seien: "Wenn der Abend kommt, darf es keine Juden mehr in Deutschland geben." Köster und seine Männer ziehen los und verhaften wahllos Juden. Drei von ihnen werden, als sie sich wehren wollen, in ihren Wohnungen erschossen. Köster selbst schießt nicht, weil er es "nicht über sich bringt".
Wien, gegen 04.00 Uhr: Schon mehr als 1000 vermögende Juden sind festgenommen worden, fast alle Synagogen wurden verwüstet oder in Brand gesetzt.
Guntersblum bei Worms, 07.30 Uhr: Der örtliche Gendarm bekommt den Befehl, alle Juden des kleinen Ortes zum Rathaus zu bringen.
Berlin, kurz vor 08.00 Uhr: Schulkinder plündern einen Schreibwarenladen in der Nähe ihrer Schule. Eine Dame, die zufällig vorbeikommt, verbietet ihn das. Ein Junge antwortet: "Unser Vater hat gesagt, das ist kein Diebstahl, denn die Juden haben uns das alles ja vorher auch weggenommen."
München, morgens: Joseph Goebbels bekommt einen ersten Bericht über die Ereignisse der Nacht und ist zufrieden: "Brand über Brand. Aber das ist gut so! ... Im ganzen Lande sind die Synagogen abgebrannt."
Berlin, vormittags: Zwei jüdische Jungen, David Zwingermann und Horst Löwenstein, betreten die ausgebrannte Synagoge in der Markgraf-Albrecht-Straße. In einem massiven Eichenschrank entdeckten sie zwölf von den Flammen unversehrte Thorarollen. Obwohl SA-Leute und Schaulustige um die Ruine herum stehen, bringen die beiden Jungen die heiligen Schriften mit Hilfe eines Taxifahrers in Sicherheit.
Guntersblum, vormittags: Fünf ältere jüdische Männer werden gezwungen, mit Thorarollen und Gebetsschals durch das Dorf zu laufen. Dabei werden sie beschimpft, bespuckt und mit Steinen oder Sand beworfen.
Berlin, gegen 11.00 Uhr: Auf dem Boulevard Unter den Linden plündern Passanten zwei bekannte jüdische Juweliergeschäfte.
München, mittags: In Hitlers Lieblingsrestaurant, der "Osteria" in Schwabing, erstattet Goebbels Bericht. "Er ist mit allem einverstanden. Seine Ansichten sind ganz radikal und aggressiv. Die Aktion selbst ist tadellos verlaufen. 17 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt." In Wirklichkeit liegt der Zahl der Toten mehr als zehnmal so hoch.
Berlin, mittags: Die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich hält ihre Eindrücke im Tagebuch fest: "Tobt sich hier spontane Volkswut aus? Springt der Funke über, fällt ins Pulverfass und entlädt den verhaltenen Grimm einer ganzen Nation mit donnernder Explosion? Nein und abermals nein!"
Guntersblum, mittags: Nach dem Demütigungsmarsch müssen die Juden mit ansehen, wie die Thorarollen und andere heilige Gegenstände auf einem Scheiterhaufen vor dem Rathaus verbrannt werden.
München, am frühen Nachmittag: Nach dem Treffen mit Hitler formuliert Joseph Goebbels einen Aufruf an die Bevölkerung, um die Ausschreitungen zu beenden. In seinem Tagebuch schreibt er darüber: "Ich setze eine Verordnung auf Abschluss der Aktionen auf. Es ist nun gerade genug. Lassen wir das weitergehen, dann besteht die Gefahr, dass der Mob in Erscheinung tritt." Zu diesem Zeitpunkt sind mehr als 1400 Synagogen und Beträume in ganz Deutschland geschändet oder zerstört worden, mindestens 7500 Geschäfte wurden verwüstet oder geplündert.
Berlin, am frühen Nachmittag: Der siebenjährige Günter Lamprecht kommt aus der Schule. Sein Freund Helmut sagt: "Heute ist alles umsonst, die Judenläden sind aufgekloppt worden, da kannste Dir rausholen, was Du willst!" Gemeinsam plündern die beiden Jungs einen demolierten Tabakladen, dessen Besitzer konsterniert im Hinterzimmer sitzt und zusieht.
München, 15.30 Uhr: Das Deutsche Nachrichtenbüro verbreitet die Anweisung von Goebbels, alle antijüdischen Maßnahmen einzustellen. Darin heißt es: "Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in umfangreichem Maße Luft geschafft. Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleich welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das Attentat wird auf dem Weg der Gesetzgebung beziehungsweise der Verordnung dem Judentum erteilt werden."
Berlin, 16.00 Uhr: Der 65-jährige Kaufmann Elias Feuerstein wird von Plünderern vor seiner Wein- und Spirituosenhandlung in der Strausberger Straße 25 erschlagen.
Guntersblum, 16.00 Uhr: Die Gendarmerie erhält vom Landratsamt telefonisch die Anweisung, "dass die Judenaktion als beendet zu betrachten und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen weitere Ausschreitungen einzuschreiten ist".
Berlin, 16:30 Uhr: Obwohl die Goebbels-Weisung auf allen Radiokanälen verbreitet wird, gibt es weiter Übergriffe. Der Korrespondent des britischen "Daily Express" berichtet an seine Redaktion: "Plündernde Mobs widersetzen sich Goebbels."
München, abends: Mehr als 400 deutsche Journalisten, sowohl von der NSDAP-Presse als auch von den noch bestehenden bürgerlichen Zeitungen, sind zu einem Empfang in den "Führerbau" am Königsplatz geladen. Hitler hält eine einstündige Rede und verliert kein Wort über das Pogrom, dessen Folgen auf den Straßen der Münchner Innenstadt unübersehbar sind. Aber er sagt, dem Volk müsse klargemacht werden, "dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen". Die Zuhörer sehen darin einen Hinweis auf das Pogrom, doch Hitler meint in Wirklichkeit den Krieg um Lebensraum, zu dem er längst entschlossen ist.
Berlin, 21.30 Uhr: Der Arzt Erich Narthoff kommt nach Hause, wo ihn zwei Kriminalpolizisten erwarten, um ihn festzunehmen.
Berlin, morgens: Mit dem Nachtzug ist Joseph Goebbels aus München in die Reichshauptstadt zurückgekehrt. Er lässt über die vergangenen Stunden Bericht erstatten: "In Berlin ist in der Nacht alles ruhig geblieben. Die Lage im Reich hat sich allgemein beruhigt. Es ist kaum noch etwas vorgekommen. Mein Aufruf hat Wunder getan." Allerdings muss er auch feststellen: "Die Auslandspresse ist sehr schlecht. Vor allem die amerikanische." Er lädt die wichtigsten Korrespondenten ein.
München, vormittags: Hitler verlässt seine Privatwohnung, um zu seiner Alpenresidenz auf dem Obersalzberg zu fahren. Ihn interessieren das Pogrom und seine Folgen nicht.
Berlin, 13.10 Uhr: Reinhard Heydrich befiehlt den Judenexperten Adolf Eichmann nach Berlin, der zu dieser Zeit die Auswanderung von Juden aus Wien vorantreibt.
Berlin, 14.30 Uhr: Im Propagandaministerium hält Joseph Goebbels eine Pressekonferenz für internationale Journalisten ab. Die Atmosphäre ist "eisig kalt", und der Minister spricht sowohl "nach Form wie nach Inhalt seines Vortrages so unsicher und wenig wirkungsvoll wie nie". Am Ende flieht der sonst so selbstbewusste Goebbels geradezu aus dem Saal.
Berlin, 15.30 Uhr: Der norwegische Diplomat Ulrich Stang macht sich in den Straßen um den Kurfürstendamm ein eigenes Bild von der Lage. Er sieht "ein ganz furchtbares Bild entsetzlicher Zerstörungen". Dutzende Geschäfte sind geplündert, die Ruine der Synagoge in der Fasanenstraße raucht noch immer, auch Funken fliegen noch aus dem Dachstuhl. Ihm fällt ein Polizist auf, der Plünderer auffordert, ein jüdisches Geschäft zu verlassen. Daraufhin drängt eine Menge von Schaulustigen den einzelnen Polizisten ab.
Dachau, nachmittags: Die ersten von mehr als 10.000 männlichen Juden werden in das Konzentrationslager nördlich von München gebracht und in viel zu kleine Baracken gepfercht.
Washington D.C., 13.00 Uhr Ortszeit: Im Weißen Haus speist US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit Außenminister Cordell Hull. Die beiden beschließen, den US-Botschafter aus Berlin zu "Konsultationen" zurückzurufen. Vor Veröffentlichung dieses Beschlusses will sich Hull aber noch von seinen Diplomaten in Deutschland informieren lassen, wie diese Maßnahme wohl aufgefasst wird.
Schwanenwerder bei Berlin, abends: Die Feier zu Magda Goebbels' 37. Geburtstag im luxuriösen Landhaus fällt sehr leise aus. Offenbar ist der Propagandaminister nicht recht bei Laune: "Wir haben augenblicklich keinen Grund für rauschende Freude", notiert er ins Tagebuch. Das liegt an Eheproblemen, aber auch an der negativen Resonanz der Weltpresse auf das Pogrom.
Berlin, 11.00 Uhr: Hermann Göring hat Vertreter der meisten Reichsbehörden ins Luftfahrtministerium bestellt, um über Konsequenzen aus dem Pogrom zu beraten. Er ist wütend, weil durch die Ausschreitungen die "Falschen" getroffen worden seien: "Diese Demonstrationen habe ich satt. Sie schädigen nicht den Juden, sondern schließlich mich, der ich die Wirtschaft als letzte Instanz zusammenzufassen habe."
Berlin, 12.00 Uhr: Die Runde bei Göring einigt sich darauf, die Versicherungsansprüche der Juden zugunsten des Reiches einzuziehen, den Geschäftsinhabern die Beseitigung der Schäden aufzuerlegen und zudem eine Milliarde Reichsmark als "Kontribution" für den Tod Ernst vom Raths zu verlangen. Binnen kürzester Zeit sollen alle Juden aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen werden.
Berlin, 13.30 Uhr: Reinhard Heydrich schlägt die Kennzeichnung von Juden vor. Sie sollen in der Öffentlichkeit ein "bestimmtes Abzeichen" tragen. Tatsächlich eingeführt wird dieses Stigma allerdings erst 1941: der berüchtigte Judenstern.
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