Stalins Tod: Stalin war sprachlos und lag in seinem Urin
Nur wenige Menschen haben das 20. Jahrhundert derart geprägt wie Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin. Als er in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 1953 auf seiner Datscha Kunzewo rund 15 Kilometer von Moskau entfernt einen Schlaganfall erlitt, erfuhr die Welt lange nichts davon.
Erst am 4. März veröffentlichte die staatliche Nachrichtenagentur Tass eine Mitteilung der Regierung über die Erkrankung des Kreml-Chefs: "Das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR machen Mitteilung von dem Unglück, das unsere Partei und unser Volk getroffen hat – von einer schweren Erkrankung des Genossen Stalin." Demnach habe Stalin in der Nacht vom 1. auf den 2. März in seiner Moskauer Wohnung eine Hirnblutung erlitten und leide unter Herz- und Atmungsstörungen. Daran stimmten weder Ort noch Zeit. Schließlich hieß es: "Zur Behandlung des Genossen Stalin wurden die besten Ärzte herangezogen." Auch das stimmte nicht. Die besten Ärzte des Landes saßen in den Folterkammern der Geheimdienste. Einen Tag später war Stalin tot.
Noch heute, 60 Jahre danach, sind nicht alle Fakten geklärt. Die Entschlüsselung jener entscheidenden Stunden, in denen dem allmächtigen Diktator die Macht entglitt, gestaltet sich schwierig, denn die Überlieferung ist in hohem Maße von unterschiedlichen Interessen geprägt und von der Propaganda der Nachfolger verzerrt worden. Wenige Wochen zuvor hatte Stalin mehreren hochrangigen Funktionären mit Absetzung und Liquidierung gedroht. War sein Tod gar Folge eines Giftanschlags oder – zumindest – unterlassener Hilfeleistung?
In seinem großen Buch "Stalin. Am Hof des Roten Zaren" hat der britische Historiker Simon Sebag Montefiore Stalins Sterben rekonstruiert. Zusammen mit anderen Quellen entsteht daraus eine Chronik des Geschehens, das nicht nur die Sowjetunion erschütterte.
Stalin lässt sich von seinem Lieblingssitz Kunzewo in den Kreml fahren. Wie üblich zitiert er die Politbüro-Mitglieder des Zentralkomitees Beria, Chruschtschow, Malenkow und Bulganin zu sich, um mit ihnen im luxuriös ausgestatteten Kino im Großen Kremlpalast Filme zu sehen. Mit Vorführungen vor allem amerikanischer Produktionen – Cowboy-, Kriminalfilme, aber auch Komödien – beginnen die nächtlichen Gelage, die für die Mitglieder der sowjetischen Führungen Pflicht sind. Stalin zieht dabei seine Strippen und bereitet neue Intrigen vor.
Marschall Woroschilow stößt kurz vor dem Start des Films zum Publikum. Stalin habe einen "lebhaften und vergnügten" Eindruck gemacht, gibt er später zu Protokoll. Zur engen Entourage des Diktators gehört er nicht mehr. Weil er "zu alt" sei, hat ihn Stalin vor wenigen Monaten aus dem Kreis der potenziellen Nachfolger getilgt und weitere Schläge gegen Abweichler angekündigt.
Woroschilow und Leibwächter Losgatschew stellen das Menü für den weiteren Abend in Kunzewo zusammen. Weil Stalin an Arthritis, Arteriosklerose, Bluthochdruck und Schwindelanfällen leidet und seine häufigen Gedächtnislücken mit paranoiden Einfällen zu überdecken sucht, haben die Ärzte ihm Mäßigung empfohlen. Dennoch wird der georgische Lieblingswein in großen Mengen bestellt.
Während Losgatschew und die zweite Haushälterin Matrena Butusowa das georgische Büffet servieren, kommt das Gespräch auf die sogenannte Ärzteverschwörung. Dahinter verbirgt sich ein von Stalin angezetteltes Komplott gegen die führenden Mediziner der Sowjetunion, die zugleich als Hausärzte die Kreml-Oligarchen betreuen. Da sie zumeist Juden sind, wird ihnen vorgeworfen, "Agenten des amerikanischen Geheimdienstes" zu sein. Stalin droht, den neuen Geheimdienst-Chef Semjon Ignatiew einen Kopf kürzer zu machen, wenn er nicht endlich brauchbare Geständnissen aus den inhaftierten Ärzten herausprügele.
Stalin bringt seine Gäste zur Tür. "Sie können auch ein Nickerchen machen", wird er zitiert – was höchst ungewöhnlich ist. Mit der Drohung, sie jederzeit zu sich zu zitieren, setzt der Diktator seine Gehilfen täglich unter Druck. Wer bei seinen Gelagen nicht mithält, sondern einschläft, muss um sein Leben fürchten. Wer das Falsche sagt, ebenfalls.
Die Geheimdienst-Wachen, bemerken, dass Stalin entgegen seiner üblichen Gewohnheit gegen Mittag nicht aufsteht. "Keine Bewegung", heißt es in einem Bericht. Die Wachen werden unruhig, wagen aber nicht, sich ohne Aufforderung von innen Stalins Gemächern zu nähern. Schon eine Störung kann Deportation in den Gulag oder Tod bedeuten.
Im kleinen Esszimmer der Datsche, wo Stalin auf einem rosarot bezogenen Sofa zu schlafen pflegt, wird ein Licht angemacht. "Wir dachten, Gott sei Dank, alles in Ordnung", gibt Oberstleutnant Losgatschew von der Wachmannschaft zu Protokoll.
Entgegen seinen Gewohnheiten, hat Stalin nicht nach seinen Leibwächtern gerufen und ihnen Aufträge erteilt. Losgatschew und sein Vorgesetzter, Oberst Starostin, streiten, wer von ihnen nach dem Rechten schauen soll: "Sie sind der Vorgesetzte, also gehen Sie." – "Ich habe Angst." – "Was meinen Sie, was ich bin? Ein Held?"
Die Post aus dem Zentralkomitee kommt. Da es zu Losgatschews Aufgaben gehört, sie Stalin zu bringen, betritt er die Datscha, wobei er möglichst viel Lärm macht, um gehört zu werden, denn unliebsame Überraschungen werden vom Hausherrn nicht selten mit der Todesstrafe geahndet. Im kleinen Esszimmer bietet sich dem Personenschützer ein "fürchterlicher Anblick": Stalin liegt in kurzer Pyjamahose und Unterhemd auf dem Teppich, er ist bei Bewusstsein und kann nicht sprechen. Neben ihm liegt eine "Prawda" und eine Uhr. Auf dem Tisch steht eine Flasche Mineralwasser. Stalin hat sich eingenässt. Seine Uhr zeigt 6.30 Uhr.
Die Tschekisten legen Stalin auf das Sofa im Großen Speisesaal, weil es dort luftiger ist. Stalin schlottert vor Kälte. Starostin informiert Ignatiew, der für die persönliche Sicherheit des Diktators zuständig ist. Dennoch erklärt der Geheimdienst-Chef sich für nicht zuständig und verweist den Oberst an Malenkow und Beria, vermutlich auch an Chruschtschow.
Malenkow versucht vergeblich, Beria zur erreichen. Der ist offenbar nicht zuhause. Es wird vermutet, dass er sich bei einer seiner zahlreichen Geliebten aufhält. Der ehemalige Herr über die Geheimdienste weiß seit Monaten, dass Stalin ihm nach dem Leben trachtet.
Malenkow meldet sich bei Oberst Starostin. Er habe Beria nicht erreichen können. Substanzielle Anweisungen gibt der fast allmächtige Statthalter, die aktuelle Nummer zwei der sowjetischen Machthierarchie, nicht.
Beria ruft endlich in Kunzewo an und erteilt dem Chef der Wachmannschaft, Oberst Starostin, den Befehl: "Sagt niemandem etwas vom Zustand des Genossen Stalin und führt auch keine Telefonate."
Oberstleutnant Losgatschew hält Wache beim zitternden Stalin. Er weiß, dass es bis zum Kreml höchstens 15 Autominuten sind. Es dauert lange, bis eine schwere Limousine für der Datscha hält. Er sei über Nacht grau geworden, sagt Losgatschew später.
Chruschtschow, Bulganin und Malenkow erreichen Kunzewo. Sie halten Stalin für betrunken, beschließen, ohne den Mann gesehen zu haben, ihn in seinem "unziemlichen Zustand" nicht zu behelligen und fahren wieder ab. Den Rest sollen die Wachen erledigen. Das zumindest behauptet Chruschtschow.
Die von langer Hand vorbereitete antisemitische Medienkampagne gegen die jüdischen Ärzte und ihre sogenannten Helfer, von denen mittlerweile Tausende verhaftet sind, wird gestoppt. Bis heute ist unklar, wer die Anordnung gegenüber der Parteizeitung "Prawda" gibt. Damit wird Stalins letzte Säuberungswelle, die "Ärzteverschwörung" bekannt wurde, gestoppt. Noch aber sitzen die Mediziner, darunter die Kapazitäten Moskaus und Hausärzte des Kreml, in den Folterkammern des Geheimdienstes. Auch Molotows Frau, eine Jüdin, gehört zu den Inhaftierten.
Wahrscheinlich ist die Nachricht zutreffend, dass sich neben Chruschtschow, Bulganin und Malenkow auch Beria und Ignatiew in ihren gepanzerten Limousinen auf den Weg nach Kunzewo gemacht haben. Das zumindest schreibt der Stalin-Biograf Simon Sebag Montefiore. Angekommen, beschließen sie, dass Beria und Malenkow die Lage sondieren sollen. Um den "Woschd" (Führer) nicht zu wecken, zieht Malenkow seine Schuhe aus. Sie finden Stalin schnarchend auf dem Sofa. Die Angst der Funktionäre hat gute Gründe. Sollte Stalin mit einem Kater aufwachen, würde er den Einbruch in seine Privatsphäre als Komplott, als Griff nach der Macht interpretieren – und seine Paranoia an ihnen austoben, was viele Todesurteile zur Folge hätte.
Beria blafft die wachhabenden Tschekisten an: Wollen Sie eine Panik auslösen? "Wer hat euch Schwachköpfe dem Genossen Stalin zugewiesen?" Losgatschew übernimmt die Wache. Starostin legt sich schlafen. Beria und die anderen Spitzenfunktionäre fahren nach Moskau zurück.
Wohl schon in diesen Stunden gewinnen Beria, Chruschtschow und Malenkow Geheimdienst-Chef Ignatiew als Verbündeten, indem sie ihm Schutz und Beförderung anbieten. Der steht wegen fehlender Ergebnisse in der "Ärzteverschwörung" in der Schusslinie.
Wenn man davon ausgeht, dass die Fahrt von Kunzewo zum Kreml über leere Straßen mit überhöhter Geschwindigkeit höchstens 15 Minuten dauert, beginnt in diesen Stunden der Machtpoker der Diadochen: Beria soll als erstes abgefahren sein. Ihn hat Stalin seit Monaten unter Druck gesetzt und sogar gezwungen, gegen sich selbst Ermittlungen einzuleiten. Er weiß, dass der Diktator gegen ihn in der gleichen Weise intrigiert wie gegen Molotow und Mikojan. Ihnen hat Stalin auf dem XIX. Parteitag Ende 1952 "unwürdiges Verhalten" vorgeworfen und deutlich gemacht, dass er dabei sei, seine "alte Garde" (und damit die potenziellen Nachfolger) zu vernichten.
Starostin und Losgatschew sind verzweifelt über den Zustand Stalins und fordern von Malenkow die Entsendung eines Arztes. Der verlangt, dass sich Stalins Haushälterin Butusowa den Schlafenden ansieht. Sie findet, dass es sich um "keinen normalen Schlaf" handelt.
Malenkow und Beria verabreden, dass Ärzte nach Kunzewo kommen sollen. Aber welche? Die Hausärzte des Kremls und ihre Mitarbeiter werden in Gefängnissen gefoltert. Es dürfen auch keine jüdischen Mediziner ausgewählt werden. Gesundheitsminister Tretjakow soll bei der Auswahl helfen.
Oberst Tukow aus dem Stab in Kunzewo informiert Woroschilow sowie die in Ungnade gefallenen Molotow und Mikojan von Stalins Zustand. "Ernst und gesammelt" nimmt der Marschall die Nachricht auf. Chruschtschow teilt den Geheimdienstleuten mit, dass Ärzte unterwegs sind. Anschließend fährt er noch einmal nach Moskau, um sich frisch zu machen.
Am Krankenbett Stalins versammeln sich die Diadochen. Als Molotow, Mikojan und der ebenfalls degradierte Kaganowitsch ankommen, ist Beria schon da und führt das Kommando. Während Molotow, obwohl vom "Woschd" mit dem Tode bedroht, Tränen über das Gesicht laufen, öffnet Stalin kurz die Augen, dann zuckt er und kommt nicht mehr zu sich. Beria brüstet sich vor Molotow und Kaganowitsch: "Ich habe ihn erledigt! Ich habe euch allen das Leben gerettet!" Für diese Version sprechen zwei Indizien: Beria hatte in seiner langen Karriere als Geheimdienst-Chef wiederholt seine Vertrautheit mit Giften bewiesen. Und der Hinweis auf Magenblutungen, die im ersten Entwurf des ärztlichen Dossiers noch enthalten war, wurde in der offiziellen Fassung getilgt.
Die Ärzte unter Leitung von Professor P. E. Lukomski treffen ein. "Die Hände der Ärzte zitterten so sehr, dass sie nicht einmal das Hemd vom Leib bekamen", erinnert sich Losgatschew. Ein Zahnarzt versucht, Stalin die Prothese herauszunehmen. Sie entgleitet ihm und fällt auf den Boden. Die Ärzte wagen nicht einmal, Stalins Puls zu fühlen, bis Beria sie anschreit. Ein Arzt resümiert: "Wir dachten, das war's also: Die stecken uns in einen Wagen, und dann ab die Post. Wir sind erledigt."
Vor dem versammelten Politbüro, zu dem auch Molotow, Woroschilow und Mikojan gehören, geben die Ärzte ihre Diagnose ab: "Arterielle Gehirnblutung im halblinken Areal". Der Zustand sei "äußerst ernst". "Unabwendbar" heißt es wenig später. Malenkow und Beria verlangen von den Medizinern, alles "Erdenkliche zu tun, um das Leben des Genossen Stalin zu retten", was so viel heißt wie, Zeit für den Machtkampf zu gewinnen. Jeweils zu zweit wollen die Diadochen am Krankenbett des Diktators Wache halten. So können sie einander besser kontrollieren.
Nachdem die Ärzte ihre Diagnose gestellt haben, wird das Ärzteteam verstärkt. Stalin soll "lange genug" am Leben gehalten werden, wie Malenkow es ausdrückt. "Uns allen war klar, dass er damit die nötige Zeit für den Aufbau einer neuen Regierung meinte", erinnert sich ein Zeuge.
Während Beria und Malenkow die künftige Machtverteilung arrangieren – dieser soll ZK-Sekretär bleiben und das Staatsoberhaupt geben, während jener sich wieder zum Herrn über die Geheimdienste machen will –, versuchen Chruschtschow und Bulganin, dies zu verhindern. Wiederholt besuchen sie Stalin am Krankenbett. In Kunzewo treffen sie auf Stalins Sohn Wasili, der sich betrinkt und ihnen vorwirft: "Ihr Schweine habt meinen Vater getötet." "Es ist besser für ihn, wenn er stirbt", erklärt Beria seiner Familie.
Die inhaftierten Kreml-Ärzte werden gefragt, welche Kollegen sie denn für die Behandlung eines "schwer kranken Onkels" empfehlen könnten. Ihnen fallen nur Festgenommene ein, das Team an Stalins Sofa nennen sie zweitklassig. Derweil werden Beria, Malenkow und Chruschtschow von den übrigen Präsidiumsmitgliedern beauftragt, dafür zu sorgen, "dass Stalins laufende wie archivierte Dokumente und Papiere eine angemessene Ordnung fanden". Beria macht sich umgehend ans Werk.
Als neue "Kollektivführung" der Sowjetunion wird vereinbart: Malenkow übernimmt Stalins Ämter als Premier und Sekretär, Beria erhält die Geheimdienste, Chruschtschow bleibt KP-Sekretär, Bulganin Verteidigungsminister. Molotow wird wieder ins höchste Parteigremium berufen, jener als Außenminister, dieser als Handelsminister. Und Woroschilow wird Staatsoberhaupt.
Umgeben von seinen höhnenden (Beria) oder weinenden (fast alle anderen) Diadochen lebt der Mann, der 20 Millionen Menschen ermordet und 28 Millionen deportiert hat, noch bis zum Morgen – ein "Opfer seiner eigenen Tyrannei", so der Historiker Manfred Hildermeier. "Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode", erinnert sich Stalins Tochter Swetlana an die letzten Minuten. Wenig später verfärbt sich Stalins Antlitz, die Lippen werden schwarz, und er erstickt schließlich. Die Diadochen bedenken ihn mit ihren rituellen Küssen und weinen.
Nur Beria ruft umgehend nach seinem Wagen und lässt sich in den Kreml fahren.
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